André Gorz: Entsinnlichung des Wissens

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On Sat, Sep 22, 2018
Heute ist sein 11. todestag. einiges auch im AKI-wiki auf
http://wiki.aki-stuttgart.de/mediawiki/index.php/Andre_Gorz




>>> >
>>> > taz-interview in 08/2003 mit Andre Gorz.
>>> >
>>
>> Entsinnlichung des Wissens
>>
>> Wenn "Humankapital", also menschliche Fähigkeiten und nicht
>> formalisierbares Wissen, wichtiger wird als Sachkapital, im
>> spätkapitalistischen System aber auch Humankapital nur in
>> privatisierter Form verwertet werden kann, ergeben sich Widersprüche
>> zwischen materieller Form und immateriellen Wissensinhalten. Der
>> Sozialphilosoph André Gorz geht diesen Widersprüchen in seinen
>> jüngsten Untersuchungen nach
>> Interview THOMAS SCHAFFROTH
>>
>> "Was für ein Unterschied zu den wendigen Pariser Modephilosophen, die
>> auch schon mal vor den Trümmern Sarajevos posieren! Gorz hat kleinere
>> Auflagen, nachhaltigeren Einfluss - und keine Illusionen",
>> charakterisiert SPD-Politiker und Medienwissenschaftler Peter Glotz
>> André Gorz.
>>
>> 1923 in Wien als Sohn eines jüdischen Holzhändlers geboren, verbrachte
>> Gorz die Kriegsjahre in der Schweiz und ließ sich nach Kriegsende in
>> Paris nieder, wo er mit Sartre an dessen Zeitschrift Les Temps
>> modernes und später als Redakteur bei den Zeitschriften LExpress und
>> Le Nouvel Observateur arbeitete. Der undogmatische Marxist Gorz trug
>> zur Verbreitung der Theorien von Herbert Marcuse und Ivan Illich bei.
>> Seine eigenen Schriften wie "Abschied vom Proletariat" (dt. 1980) und
>> "Wege ins Paradies - Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der
>> Arbeit" (dt. 1984) sollten für ökologische Linke Kultbücher werden.
>> Gorz, der heute mit seiner Frau im Burgund lebt, setzt sich in seinen
>> Studien mit der Verwandlung der Arbeit in Ware auseinander ("Arbeit
>> zwischen Misere und Utopie", dt. 2000) und kritisiert die herrschende
>> Klassengesellschaft, die alle Materie in Ware umzuformen trachtet
>> ("LImmatériel. Connaissance, valeur et capital", Editions Galilée,
>> Paris 2003).
>>
>> taz.mag: In Ihrem neu erschienen Buch "LImmatériel" stellen Sie die
>> Frage, ob es eine kapitalistische Wissensgesellschaft überhaupt geben
>> kann. Sie sind aber der Meinung, dass Wissensökonomie und Kapitalismus
>> nicht vereinbar sind. Warum?
>>
>> André Gorz: Weil in der so genannten Wissensökonomie die Maßstäbe der
>> herkömmlichen Ökonomie nicht länger gelten. Die wichtigste
>> Produktivkraft, Wissen, ist nicht mehr quantifizierbar, die auf Wissen
>> gegründete Arbeitsleistung ist nicht mehr in Arbeitsstunden messbar.
>> Und die Umwandlung von Wissen in Kapital - in Geldkapital - stößt
>> trotz aller Kunststücke auf unlösbare Schwierigkeiten. Kurz: Die drei
>> fundamentalen Kategorien der politischen Ökonomie, Arbeit, Wert und
>> Kapital, können nicht mehr rechnerisch erfasst werden. Das macht auch
>> Begriffe wie Mehrwert, Mehrarbeit, Tauschwert, Bruttosozialprodukt
>> immer schwerer anwendbar. Die Makroökonomen tasten im Dunkeln, wenn
>> sie versuchen, die wirtschaftliche Leistung und Entwicklung mit
>> herkömmlichen Kategorien zu messen. Die Wissensökonomie ist im Grunde
>> eine tiefgreifende Krise des Kapitalismus und weist auf eine andere,
>> neu zu gründende Ökonomie hin. Das begründet auch die weltweite
>> Diskussion über die Frage, was Reichtum eigentlich ist, welchen
>> Kriterien er entsprechen soll.
>>
>> Jeremy Rifkin hat in seinem Buch "Access" gezeigt, dass immaterielles
>> Wissenskapital bei der Wertschöpfung eine überwiegende Rolle spielt
>> und den wichtigsten Teil des Firmenkapitals darstellt. Firmen lagern
>> ihr Sachkapital aus und verkaufen nur noch Wissen und
>> Dienstleistungen.
>>
>> Dem ist so. Als "Wissen" bezeichnet man aber sehr unterschiedliche
>> Sachen. Es gibt keinen einheitlichen Maßstab. Da haben wir die
>> künstlerischen Fertigkeiten, die Fantasie und die Kreativität, die in
>> der Werbung, dem Marketing, dem Design, der Innovation beansprucht
>> werden, um den Waren, auch den ordinärsten, einen künstlerischen,
>> symbolischen, unvergleichbaren Wert zu verleihen. Werbung und
>> Marketing sind wahrscheinlich die größte Wissensindustrie. Indem sie
>> die Waren mit einzigartigen, unvergleichbaren Qualitäten versehen,
>> können die Firmen ihre Ware eine Zeit lang zu überhöhten Preisen
>> verkaufen. Sie verfügen über eine Art von Monopol, verschaffen sich
>> eine Monopolrente und umgehen momentan das Wertgesetz.
>>
>> Wie ist bei diesem Prozess das Verhältnis von Wissen und Kenntnissen?
>>
>> Wissen im Sinne von technischen und wissenschaftlichen Verfahren und
>> Kenntnissen mag eine ähnliche Rolle spielen, doch hat seine
>> Wirkungsbreite und sein Gebrauchswert eine viel direktere Wichtigkeit.
>> Im Unterschied zu künstlerischen und innovativen Fertigkeiten können
>> Kenntnisse und Verfahren von ihren BenützerInnen getrennt
>> weitergegeben, formalisiert, digital umgeschrieben und in Computern
>> ohne menschliches Zutun produktiv eingesetzt werden. Unter diesem
>> Gesichtspunkt ist Wissen fixes Kapital, Produktionsmittel. Aber es
>> weist gegenüber früheren Produktionsmitteln einen entscheidenden
>> Unterschied auf: Man kann es praktisch kostenlos in grenzenlosen
>> Mengen verfielfältigen. Wie aufwändig seine ursprüngliche Erarbeitung
>> auch sein mag, tendiert digitalisierbares Wissen dazu, kostenlos
>> zugänglich und verwendbar zu werden. Denn wenn es millionen- oder
>> milliardenfach vervielfältigt und genützt wird, schlagen seine
>> ursprünglichen Kosten kaum noch zu Buch. Das gilt für alle
>> Softwareprogramme wie auch für den Wissensinhalt von Medikamenten.
>>
>> Wenn es als fixes Kapital funktionieren und zur Mehrwertabschöpfung
>> dienen soll, so muss Wissen folglich ein patentiertes Monopoleigentum
>> sein, welches seinem Inhaber eine Monopolrente einbringt. Von der Höhe
>> der Rente, die man erwarten kann, hängt der Kurs ab, den das
>> Wissenskapital an der Börse erreicht. Auf dieser Grundlage lassen sich
>> gigantische Finanzblasen aufblähen, die eines Tages jedoch jäh
>> zerbersten. Der seit Mitte der Neunzigerjahre voraussehbare
>> Börsenkrach beweist, wie schwierig es ist, Wissen in Geldkapital
>> umzuwandeln und als Wissenskapital funktionieren zu lassen.
>>
>> Sie weisen nun wiederholt darauf hin, dass die Wissensökonomie auf die
>> Notwendigkeit einer "anderen Ökonomie" und einer anderen Gesellschaft
>> hinweist, deren Möglichkeiten sich auch praktisch abzeichnen.
>>
>> Ja, das Wissen ist keine ordinäre Ware. Es eignet sich nicht dazu, als
>> Privateigentum behandelt zu werden. Seine Inhaber verlieren es nicht,
>> wenn sie es weitergeben; je weiter es verbreitet ist, umso reicher ist
>> die Gesellschaft. Es verlangt, als Gemeingut behandelt und von vorne
>> herein als Resultat gesamtgesellschaftlicher Arbeit betrachtet zu
>> werden. Denn seine Privatisierung beschränkt seinen gesellschaftlichen
>> Nutzwert. Das ist in den letzten zehn oder zwanzig Jahren so
>> offensichtlich geworden, dass sich weltweit eine antikapitalistische
>> Front im Kampf gegen die Wissensindustrie gebildet hat; gegen die
>> Chemie- und Pharma-Industrie, aber auch gegen die Software-Industrie,
>> namentlich Microsoft.
>>
>> Der Wissenskapitalismus eignet sich ja nicht allein das von ihm
>> geschröpfte Wissen an. Er privatisiert auch ausgesprochene Gemeingüter
>> wie das Genom von Pflanzen, Tieren und Menschen und greift kostenlos
>> auf kulturelles Gemeingut zu, um es als kulturelles Kapital, als
>> "Humankapital", zu verwerten. Darunter verstehen sich hauptsächlich
>> die menschlichen Fähigkeiten und nicht formalisierbare Formen von
>> Wissen, welche die Individuen im täglichen Verkehr mit ihren
>> Mitmenschen entwickeln. Instrumentalisiert und ausgebeutet wird also
>> im "capitalisme cognitif" - wie ihn Theoretiker in Frankreich, die
>> Toni Negri nahe stehen, nennen - nicht nur die geleistete Arbeitszeit,
>> sondern auch die in der Nichtarbeitszeit vollzogene unsichtbare
>> Selbstentfaltungs- und Bildungszeit. Letztere wird eine der
>> wichtigsten Quellen von Produktivität und Wertschöpfung. Eine
>> wirkliche Wissensgesellschaft würde erfordern, dass die Wirtschaft in
>> den Dienst von Bildung und Selbstentfaltung gestellt wird, und nicht
>> umgekehrt, wie heute. Diese Einsicht finden wir schon bei Marx, der
>> schrieb, eigentlicher Reichtum sei "die Entwicklung aller menschlichen
>> Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebenen Maßstab". Die
>> Forderung nach garantiertem Existenzgeld hat hier eine Grundlage.
>>
>> Wie gestaltet sich die "andere Ökonomie", jenseits vom Kapitalismus?
>>
>> Beispielsweise in den Free Nets und in der Kultur der freien Software
>> mit offenem Quellcode für Internet-Benutzer. Die meisten Unternehmen
>> arbeiten bereits in Netzwerken. Sie stimmen ihre Entscheidungen auf-
>> und miteinander ab. Selbstorganisierung und Selbstkoordinierung und
>> freier Austausch sind heute Grundlagen der gesellschaftlichen
>> Produktion. Letztere können folglich ohne zentrale Planung und ohne
>> Vermittlung des Marktes erfolgen. Die vernetzten Produzenten würden
>> sich von vorneherein gezielt auf die den Bedürfnissen entsprechenden
>> Produktionen verständigen und diese "von vorneherein als gemeinsame
>> Tätigkeiten" unternehmen, indem sie Güter und Dienstleistungen
>> tauschen, ohne ihnen vorerst den Warencharakter zu geben. Das Geld
>> würde so überflüssig gemacht und dem Kapital die Grundlage entzogen,
>> eine Theorie, die vor allem Wolf Göring in seinen Studien über
>> Informations- und Kommunikationstechnik entwickelt hat.
>>
>> Eine Wissensgesellschaft in dieser von Ihnen umrissenen Form wäre eine
>> kommunistische Gesellschaft.
>>
>> Genau.
>>
>> Den Vorreitern der künstlichen Intelligenz und des künstlichen Lebens
>> werfen Sie vor, eine posthumane Zivilisation vorzubereiten.
>>
>> Das ist mir ganz wichtig. Der Berliner Philosoph Erich Hörl zeigt
>> beispielsweise in seiner meisterhaften Dissertation auf, wie die
>> Wissenschaft sich im Laufe der letzten 150 Jahren mehr und mehr von
>> der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit losgelöst und durch
>> mathematisierendes Denken nur mehr mathematisch erfassbare Strukturen
>> des Realen aufgedeckt hat. Die beispielsweise in Computern schaltbare
>> mathematische Kalkülsprache hat der Wissenschaft, aber auch dem
>> Kapitalismus, dazu verholfen, sich gegenüber Sinnfragen und
>> gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verselbstständigen und nicht
>> Kalkulierbares als nicht real auszuklammern. Die mathematische
>> Entsinnlichung der Denkprozesse hat allmählich zu einer Lebensumwelt
>> und Lebensweise geführt, der die Menschen körperlich und geistig nicht
>> mehr gewachsen sind. Daraus schließen die waltenden Mächte, dass man
>> leistungsfähigere Menschen schaffen muss. Militärischer und
>> ökonomischer Leistungs- und Machtwahn fordern künstliche Intelligenz
>> und künstliche Menschmaschinen. Von einer Wissensgesellschaft wird
>> erst die Rede sein können, wenn sich Wissenschaft und Ökonomie nach
>> gesellschaftspolitischen, ökologischen und kulturellen Zielen richten
>> und nicht nach dem Imperativ der Kapitalverwertung. Dafür gibt es eine
>> noch kleine, aber steigende Anzahl von Befürwortern in den
>> Wissenschaften selbst.
>>
>> THOMAS SCHAFFROTH, Jahrgang 1952, ist Historiker und Journalist. Er
>> lebt in Marseille
>>
>> taz Magazin Nr. 7132 vom 16.8.2003, Seite IV, 289 Zeilen
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>> WISSEN2 (W2) - ...
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