Emma Goldman (1869-1940)

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Date: Jan 14, 2007 12:01 AM
Subject: [contraste-list] [Fwd: FW: [GWR] Emma Goldman: Paedagogin,
Anarchistin, Kosmopolitin (Portrait)]
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GWR 315 Januar 2007

Emma Goldman - Anarchistin und Pädagogin
Revolutionäre Kosmopolitin

"Red Emma", wie Emma Goldman (1869-1940) in den USA von der Presse genannt
wurde, ist nicht nur eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen der USA im
frühen 20. Jahrhundert, sie zählt auch zu den bedeutendsten Anarchistinnen
der Neuzeit.

Als "Anarchafeministin" prägte sie zusammen mit anderen Anarchistinnen wie
etwa der Amerikanerin und Zeitgenossin Voltairine des Cleyre (1866-1912),
der gebürtigen Ukrainerin Milly Witkop-Rocker (1877-1955) oder der Französin
Louise Michel (1830-1905) libertäre Positionen für den Feminismus des 20.
Jahrhunderts. Darüber hinaus - und dieser Aspekt ihres Lebens ist in
Deutschland noch wenig diskutiert - engagierte sie sich auch sehr für eine
libertäre Schulbewegung und gründete 1909 zusammen mit Alexander Berkman
(1870-1936) und Leonard Abbott die Francisco Ferrer Association, die
wichtigste libertäre Organisation zur Verbreitung des rationalistischen
Schulmodells des Spaniers Francisco Ferrer (1859-1909) in den USA im ersten
Drittel des letzten Jahrhunderts (vgl. Ferrer 03).

Diese beiden Aspekte ihres Lebens - Emma Goldman als Anarchistin und als
Bildungspolitikerin - stehen im Mittelpunkt der folgenden Skizze zu dieser
bemerkenswerten Frau. Von ihren über 70 Lebensjahren waren zwei Drittel
geprägt durch einen ständigen politischen Kampf gegen Unterdrückung und
Gewalt und für Gleichheit, Freiheit und Würde des Menschen. Dieser Kampf und
ihre Vision eines libertären und kosmopolitischen Humanismus führten sie
durch Nordamerika, Europa und Russland und machten sie zu einer
herausragenden politischen Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts. Sie kannte
John Reed, Jack London und Henry Miller, sie korrespondierte mit Bertrand
Russel, Aldous Huxley und Rudolf Rocker, sie "kämpfte" mit John Most,
Alexander Berkman, Voltairine des Cleyre und stand an der Seite von
CNT-FAI-KämpferInnen während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-1939), sie
lebte revolutionär und kosmopolitisch. Sie kämpfte für den Achtstundentag,
für Geburtenkontrolle, für die Legalisierung der
Schwangerschaftsunterbrechung, für Pressefreiheit, gegen Postzensur, für die
"Freie Liebe" und die Gleichberechtigung der Frauen. Sie wurde in diesem
Sinne zur libertären Ikone des Anarchismus und zählt zu jenen revolutionären
Frauen des 20. Jahrhundert, die ihm das nachhaltige Profil der Emanzipation
gaben.
Emma Goldman - Quellen und Rezeption

Die Quellen zu Emma Goldmans Leben sind vielfältig. Neben zahlreichen
Aufsätzen und Traktaten hinterlässt Goldman vor allem eine umfangreiche
Autobiographie, die erstmals 1931 in New York erschien und in der ersten
deutschen Übersetzung von 1978 drei Bände mit insgesamt 1171 Seiten umfasst
(Goldman 1978). Sie zählt nicht nur zu den herausragenden Autobiographien
des Feminismus im 20. Jahrhundert, sondern auch zu den bemerkenswertesten
Lebenszeugnissen von Libertären und ist vergleichbar mit den großen Memoiren
von Rudolf Rocker (1974) und Peter Kropotkin (1969). Eine weitere wichtige
Quelle zu ihrer politischen Orientierung ist die von ihr herausgegebenen
Zeitschrift Mother Earth (Goldman 1969), die von 1906 bis 1917 erschien und
zu einem zentralen Sprachrohr ihres Anarchismus wurde. Ihre enttäuschenden
Erfahrungen im russischen Exil 1919 bis 1921 verarbeitete sie in der Schrift
"Die Ursachen des Niedergangs der Russischen Revolution" (Goldman 1922).
Eine bemerkenswerte Biographie stammt von Candace Falk, die auf zufällig
gefundenen Briefen in einem Gitarrengeschäft 1975 beruhen und das
Liebesverhältnis zwischen Ben Reitman, einem acht Jahre jüngeren Arzt, und
Goldman dokumentieren (Falk 1987). Dieser erotische Briefwechsel gilt als
wichtige Ergänzung ihrer Autobiographie und beschreibt die gleichsam
"private" Emma Goldman.

In Deutschland erschienen ihre Schriften in den 1920er und 1930er Jahren vor
allem im Verlag Der Syndikalist (Berlin) - der zentrale Verlag der deutschen
Anarchosyndikalisten -, der ihre Abrechnung mit dem Sowjetischen System nach
der Oktoberrevolution 1922 mit einem Vorwort von Rudolf Rocker
veröffentlichte. Nach 1945 ist es im deutschsprachigen Raum bis heute der
anarchistische Karin Kramer Verlag (Berlin), der Emma Goldman wieder
zugänglich machte. Er veröffentlichte Ende der 1960er Jahre - zu diesem
Zeitpunkt "firmierte" er noch unter dem Namen Underground Press L. -
erstmals wieder in einer Reprintausgabe Goldmans Analyse der Russischen
Revolution (Goldman 1968 und 1970), 1977 eine Reihe von Aufsätzen unter dem
Titel "Das Tragische an der Emanzipation der Frau" (Goldman 1977) und
schließlich die dreibändige deutsche Erstübersetzung ihrer Autobiographie
(Goldman 1978(a)). Die deutsche Übersetzung der Biographie von Candace Falk,
"Liebe und Anarchie", erschien 1987.

Kurze Hinweise mit Textausschnitten aus Aufsätzen erscheinen ab Ende der
1960er Jahre in verschiedenen Quellenbänden zum Anarchismus. Von Erwin
Oberländer wird Goldman dabei zusammen mit John Most, Peter Kropotkin und
Elisée Reclus in den Kontext des Kommunistischen Anarchismus gestellt
(Oberländer (Hg.) 1972, S. 282-291) und in dem Sammelband von Helmut Ahrens,
Hans-Jürgen Degen und Christoph Geist findet Goldman Platz als Vertreterin
des anarchistischen Feminismus (Ahrens/Degen/Geist (Hg.) 1980, S. 155-158).
Erstmals wieder erwähnt in einem akademisch orientierten Sammelband über den
Anarchismus wird Goldman von dem Soziologen Otthein Rammstedt 1969
(Rammstedt 1969, S. 121-125) und mit einer deutschen Erstübersetzung aus
Mother Earth über den Patriotismus taucht Goldman in dem Sammelband von
Achim von Borries und Ingeborg Brandies 1970 auf (von Borries/Brandies 1970,
S. 151-162).

Daneben erschienen in den späten 1970er und frühern 1980er Jahren eine Reihe
von Broschüren mit deutschen Erstübersetzungen von Aufsätzen aus Mother
Earth, die von Anarchistischen Vereinigungen herausgegeben wurden. Der
Anarchistische Bund Berlin publizierte beispielsweise in seiner Heftreihe
anarchistische texte im Libertad Verlag (Berlin) den Aufsatz "Anarchismus -
seine wirkliche Bedeutung" in einer ersten Auflage von 2000 Exemplaren 1978
und in einer zweiten Auflage 1981 nochmals mit 3000 Exemplaren (Goldman
1978(b)). Ebenso veröffentlichte die Anarchistische Vereinigung
Norddeutschland Ende der 1970er Jahre und in einer zweiten Auflage 1983
erstmals vier Aufsätze in einer deutschen Übersetzung im Ems-Kopp Verlag
(Meppen/Ems) in einer Gesamtauflage von ca. 2000 Exemplaren (Goldman 1983).

Rezeptionsgeschichtlich kann damit vermutet werden, dass Goldman erst ab
Ende der 1970er Jahre wieder in Deutschland verstärkt rezipiert wurde. Diese
Diskussion fand nahezu ausschließlich in der damaligen anarchistischen
Bewegung statt, die zu diesem Zeitpunkt im Kontext der
Post-Alternativ-Bewegung angesiedelt war. Rezeptionsgeschichtliche Spuren in
der Frauenbewegung bzw. -forschung finden sich dagegen selten. Von einer
systematischen und anhaltenden Diskussion über Goldman kann im deutschen
Sprachraum nicht gesprochen werden. Sowohl im politikwissenschaftlichen
Diskurs als auch im Szene-Diskurs des deutschen Anarchismus ist man in den
letzten 30 Jahren nicht über eine verkürzte ideen- und
biographiegeschichtliche Beschreibung ihres Lebens hinausgekommen. In dem
jüngst erschienenen Einführungsband in den Anarchismus von Hans-Jürgen Degen
und Jochen Knoblauch (Degen/Knoblauch 2006) wiederholen sich die Statements
und Einschätzungen aus den 1970er Jahren zu ihrer Bedeutung für den modernen
Anarchismus. Was ansteht, ist eine systematische Analyse ihrer Vorstellungen
von "Freier Liebe", Familie und Geschlecht, ihrer pädagogischen und
bildungspolitischen Vorstellungen sowie ihrer Vorstellungen von Gewalt und
Militarismus.

"Wie ich mein Leben lebte"

Diese sinngemäße deutsche Übersetzung des Titels ihrer selbstbewussten und
-kritischen Autobiographie, "Living my Life" (1931), beschreibt mit einem
Satz die Qualität ihres politischen Lebens: Sie lebte ein Leben nach ihren
Vorstellungen und gegen vorherrschende Regeln. Die Antwort auf die Frage, ob
ihr Leben dabei "erfolgreich" war, fällt ebenso schwer wie leicht. Aus dem
Blickwinkel emanzipatorischer und revolutionärer Politik betrachtet, sind
Erfolg und Scheitern die Zwillinge desselben gesellschaftlichen Handels.
Eine Trennung fällt schwer, denn erfolgreich kann nur sein, was auch
scheitern kann und darf. So gesehen war Goldman erfolgreich und scheiterte
dabei zugleich.

Sie wurde in am 27. Juni 1869 in Kovno, Russland/Litauen, als Tochter eines
jüdisch-russischen Ehepaares geboren und verbrachte ihre Kindheit in Kurland
und Königsberg. 1882 zog sie mit ihren Eltern nach Petersburg, von wo aus
sie zusammen mit ihrer älteren Schwester Helene 1886 als Siebzehnjährige aus
dem bürgerlichen Elternhaus "ausbrach" und in die USA übersiedelte. In New
Haven und Rochester erlebte sie als Textilarbeiterin proletarische
Lebensverhältnisse und begann ihre politische Sozialisation und
Personalisation in der Arbeiterbewegung. Es ist die Zeit der Arbeiterkämpfe
in den USA. Für den 1. Mai 1886 wird von den Gewerkschaften zum
Generalstreik für den Achtstundentag ausgerufen und am 4. Mai 1886 wird
erstmalig in den USA in Chicago auf dem Heumarkt ("Haymarket") eine Bombe
bei einer Arbeiterdemonstration geworfen, die mehrere Polizisten tötete
(vgl. Karasek (Hg) 1975; Nuhn 1992). Dies führte zur Verhaftung von acht
Anarchisten, davon sechs deutsche Einwanderer, von denen fünf zum Tode
verurteilt wurden. Bereits wenige Jahre später stand fest, dass es sich bei
den Verhafteten und Verurteilten um einen Justizirrtum handelte, der mehr
oder weniger bewusst politisch inszeniert wurde.

Dieses "Haymarket-Massaker" und die Hinrichtung von vier Anarchisten am 11.
November 1887 - einer der Verurteilten, Louis Lingg, beging mit einer
Patrone, die er im Mund zündete, vorher Selbstmord - politisierte und
radikalisierte weite Teile der amerikanischen ArbeiterInnenbewegung. Unter
dem Eindruck dieses Justizmordes und der ArbeiterInnenkämpfte wurde die
junge Emma Goldman zur militanten Anarchistin. Zwei Jahre später, 1889,
lernte sie in New York, wo sie nun lebte, den ehemaligen deutschen
Sozialdemokraten und jetzigen Anarchisten, Johann Most, kennen, der mit
seiner Zeitschrift Freiheit zum Wortführer des damaligen militanten
Anarchismus in den USA wurde. in diesem Zeitraum beginnt auch die
lebenslange Freundschaft zu Alexander Berkman, der ebenfalls aus Russland in
die USA emigrierte, dort zum Anarchisten wurde und gemeinsam bis zu seinem
Freitod 1936 an der Seite Goldmans politisch - oftmals in ihrem Schatten -
wirkte und bis heute zu einem der herausragenden Anarchisten aus dem ersten
Drittel des 20. Jahrhunderts zählt (vgl. Berkman 1927, 1982). Am 23. Juli
1892 schoss Berkman den Industriellen Henry Clay Frick, der für ein Massaker
an streikenden Stahlarbeitern und die Vertreibung aus ihren Häusern
verantwortlich gemacht wurde, mit mehreren Pistolenschüssen nieder. Dieses
Attentat wurde gemeinsam von Goldman und Berkman geplant. Berkman wurde
verhaftet und zu 21 Jahren Kerker verurteilt, wurde aber vorzeitig nach 14
Jahren im Mai 1906 wieder entlassen (seine Gefängniserinnerungen erschienen
1912 in New York und 1927 in Berlin auf Deutsch). Goldman tauchte erstmals
unter. In den folgenden 1890er Jahren entwickelte sich Goldman immer mehr zu
einer profilierten Rednerin der sozialrevolutionären und anarchistischen
Bewegung in den USA und wurde in diesem Zusammenhang auch immer wieder
verhaftet und zu Kerker verurteilt. Ab Mitte der 1890er Jahre besucht sie zu
Vortragsreisen zunehmend Europa (England, Frankreich, Schweiz, Österreich) -
sie spricht englisch, deutsch und russisch - und entwickelt sich auch hier
zu einer wortgewaltigen Agitatorin der ArbeiterInnen- und Frauenbewegung.

Als der aus Polen stammende anarchistische Einzeltäter Leon Czoigocz 1901 in
Buffalo den amerikanischen Präsidenten McKinley erschoss, wurde auch
Goldman, die dieses Attentat ablehnte und nichts damit zu tun hatte,
verhaftet. In dem nach diesem Mord einsetzenden Klima der
Radikalenverfolgung in den USA arbeitete Goldman von 1901 bis 1903 als
Pflegerin und Näherin unter falschem Namen ("Miss Smith") und zog sich aus
der politischen Arbeit zurück.

Zusammen mit Berkman, der 1906 aus dem Gefängnis entlassen wurde, gründet
sie in diesem Jahr ihre Monatszeitschrift Mother Earth, die bis zu ihrer
Abschiebung in die UdSSR 1917 zum wichtigsten Organ der anarchistischen
Bewegung in den USA wurde. Sie wurde wieder zur "öffentlichen" Person, trat
als politische Rednerin in Erscheinung und unternahm zahlreiche
Vortragstouren in den USA und in Europa, wo sie u.a. 1917 als Delegierte am
Zweiten Anarchistenkongress in Amsterdam mitwirkt. In den USA wird sie immer
wieder verhaftet, verhört und eingesperrt. In diesen Zeitraum fällt auch ihr
pädagogisches und bildungspolitisches Interesse. Sie engagierte sich ab etwa
1909 zusammen mit anderen AnarchistInnen für eine libertäre
Alternativschulbewegung im Anschluss an die Ermordung des spanischen
Reformpädagogen Franciso Ferrer 1909 und inspirierte eine
Schulreformbewegung mit zahlreichen Ferrer-Schulgründungen in der Folgezeit
(Klemm 2004).

Das vielleicht interessanteste biographische Dokument ihres ereignisreichen
und bewegten Lebens ist der erotische Briefwechsel aus diesem Zeitraum mit
dem Arzt Ben Reitman, der 1974 zufällig entdeckt und von Candace Falk in
einer Biographie verarbeitet wurde (Falk 1984). Diese dort dokumentierte
leidenschaftliche Beziehung zu Ben Reitman, der in den USA auch als "König
der Hobos" (Tippelbrüder) bekannt wurde, dauerte von 1908 bis 1917 und
spielt in Goldmans privatem wie auch politischem Leben eine zentrale Rolle.
Sie schreibt selbst: "Wenn unser Briefwechsel je veröffentlicht werden
sollte, würde die Welt schlechthin entsetzt sein, dass ich, die verwegene
Emma Goldman, die überzeugte Revolutionärin, die Frau, die alle Gesetze und
Konventionen spottet, sich so hilflos wie ein Schiffswrack auf einem
wütenden Ozean gebärdet" (in: Falk 1989, S. 11). Goldman, die das Ideal der
"Freien Liebe" propagierte, wird, so Falk, hier zur "Sklavin ihrer
Leidenschaft" (ebd. S. 13).

Seit Ausbruch des I. Weltkrieges engagiert sie sich als aktive
Antimilitaristin und gründet zusammen mit Berkman die "No Conscription
League", die 1917 verboten wird. Berkman und Goldman werden in diesem Jahr
wegen "antimilitaristischer Umtriebe" verhaftet und kommen für zwei Jahre
ins Gefängnis. 1919 findet die Deportation zusammen mit anderen
russischstämmigen AnarchistInnen in die UdSSR statt. Die Begeisterung für
dieses "gelobte" Land war bei den anarchistischen SozialrevolutionärInnen zu
diesem Zeitpunkt zunächst noch groß. Die Ernüchterung über die repressive
und totalitäre Politik kam jedoch alsbald. Nach der Niederschlagung der
Kronstadter Matrosen-Rebellion von 1921 und der Zerschlagung der
ukrainisch-anarchistischen Freiheitsbestrebungen von Nestor Machno,
verlassen Goldman und Berkman die UdSSR 1921 und gehen zunächst nach Berlin.
1922 erscheint im deutschen Verlag Der Syndikalist ihre Abrechnung mit dem
Sowjetischen Regime unter dem Titel "Die Ursachen des Niedergangs der
Russischen Revolution" mit einem Vorwort ihres Freundes Rudolf Rocker
(Goldman 1922). Sie heiratet formal den Minenarbeiter James Colton aus
Wales, um die britische Staatsbürgerschaft zu bekommen und unternimmt wieder
zahlreiche Vortragsreisen durch Europa und Kanada. Ihr langjähriger Freund
und politischer Weggefährte, Alexander Berkman, lebt verarmt und staatenlos
in Frankreich, erkrankt an einem Krebsleiden und begeht am 27. Juni 1936
Selbstmord. Für Goldman, die mehrmals verheiratet war und über einen großen
männlichen Bekanntenkreis verfügte, war Berkman vermutlich der wichtigste
(politische) Mensch in ihrem Leben gewesen. Das Duo Goldman-Berkman, die
beide aus russisch-jüdischen Familien stammten, beide in den 1880er Jahren
in die USA auswanderten und beide dort über den Deutschen Johann Most und
die "Haymarket- Tragödie" politisiert wurden, zählt zu den wichtigsten
"Motoren" der anarchistischen Bewegung in Nordamerika und Europa zu Beginn
des 20. Jahrhunderts. Die letzten Jahre ihres Lebens engagierte sie sich mit
aller Kraft für die AnarchistInnen im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939).
Sie stirbt am 14. Mai 1940 im Alter von siebzig Jahren nach einem
Schlaganfall auf einer Vortragsreise in Toronto und wurde in Chicago, dem
Ort der dramatischen Arbeiterkämpfe in den späten 1880er Jahren, beigesetzt.
Überblicken wir heute das Leben Goldmans, dann können wir ihrem Freund und
Biographen Rudolf Rocker zustimmen, der 1922 im Vorwort zu ihrer Schrift
über die Russische Revolution schrieb: "Unter den propagandistischen
Vertretern der modernen anarchistischen Bewegung ist Emma Goldman zweifellos
eine der hervorragendsten und eigenartigsten Persönlichkeiten - ein groß
angelegter Charakter" (Rocker 1922, S. 3).

Emma Goldman und die Ferrer-Bewegung in den USA

Goldman zählt zusammen mit Leonhard Abbott, Alexander Berkman und Voltairine
de Cleyre zu jenem Kreis von AnarchistInnen in den USA, die unmittelbar nach
dem Tod des spanischen Reformpädagogen Francisco Ferrer eine
Ferrer-Schulbewegung initiierten.

Goldman interessierte sich bereits einige Jahre zuvor für anarchistische
Schulprojekte und besuchte 1900 den anarchistischen Lehrer Paul Robin in
seiner Waisenhaus-Schule in Cempuis in Frankreich und 1907, auch in
Frankreich, die anarchistische Schule "La Ruche" von Sébastian Faure
(Goldman 1907), über die sie schrieb: "My visit to La Ruche was a valuable
experience that made me realize how much could be done, even under the
present system, in the way of libertarian education" (zitiert nach Avrich
1980, S. 39). Faure gilt zusammen mit Francisco Ferrer und dem Franzosen
Jean Robin zu den Klassikern einer libertären Reformpädagogik ab Ende des
19. Jahrhunderts, die die libertären Ideen von Gleichheit, Rationalität und
Freiheit in pädagogische Modelle umsetzten (vgl. Grunder 1993, Klemm 2004).
In ihrer Zeitschrift Mother Earth erscheinen von ihr (z.B. Goldman 1906,
1907, 1909) und von anderen pädagogisch orientierten Libertären (z.B. Abbott
1911, hier 1988) immer wieder Beiträge grundsätzlicher Art über das Wesen
einer libertären Erziehung und Bildung und machten Mother Earth zu einem
wichtigen Kommunikationsorgan libertärer Bildungs- und
Erziehungsalternativen in den USA. Ein Aufsatz von Voltairine de Cleyre über
Ferrer erschien in deutscher Übersetzung in der von Gustav Landauer
herausgegeben Zeitschrift Der Sozialist 1914 in fünf Folgen (Cleyre 1914).
Eine Reihe weiterer Beiträge aus Mother Earth von Goldman, Berkman und de
Cleyre erschienen als Übersetzungen in Der Sozialist in der Zeit vor dem I.
Weltkrieg.

Einen grundsätzlichen Beitrag zur Pädagogik Ferrers veröffentlichte Goldman
in ihrem Essayband "Anarchism and other Essays" (1911, hier 1969(a), S.
145-166).

Diese Ferrer-Schul-Bewegung in den USA trägt in den ersten Jahren die
Handschrift Goldmans als Mitinitiatorin und dokumentiert ihr
bildungspolitisches Engagement, das gleichrangig - wenn auch nicht so
kontinuierlich - zu ihrem Engagement für die Gleichberechtigung der Frauen
zu sehen ist. Die Bildungs- und Frauenpolitik haben bei Goldman denselben
Ursprung im anarchistischen Denken von Freiheit und Gleichheit des Menschen.
Obgleich Goldman nur selten im eigentlich pädagogischen Sinne mit Kindern
tätig war, müssen wir sie im Kontext der libertären Reformpädagogik zu
Beginn des 20. Jahrhundert diskutieren und als Repräsentantin der
amerikanischen Alternativschulbewegung würdigen. Ein erster Ansatz hierzu im
deutschsprachigen Diskurs erfolgte 1988 durch Hans-Ulrich Grunder in seiner
Studie über weibliche Bildung (Grunder 1988).

Für Goldman sind es vor allem zwei pädagogische Elemente, die ihr libertäres
Konzept definieren: Einmal der Emanzipationsgedanke in der Erziehung von
Jungen und Mädchen und zweitens die Zwangsstrukturen der Schulen, die als
Bildungsinstitution Herrschaft ausüben, wo Freiheit notwendig wäre: Schule
als Ort des Drills und Erziehung als Instrument der Manipulation. Damit
steht sie in der Tradition libertärer Pädagogen wie Faure, Robin und Ferrer,
die eine rationale, ganzheitliche und koedukative Bildung anstreben.

Emma Goldman - eine "erfolgreiche" Frau?

Das Prädikat "erfolgreich" ist - und dies erscheint als Trivialität -
relativ. In diesem Sinne ist Goldmans Leben "sowohl als auch" erfolgreich.
Erfolgreich aus dem Blickwinkel etablierter gesellschaftlicher Verhältnisse
war sie als Anarchistin bestimmt nicht: Die "rote Emma" war vorbestraft, des
Landes verwiesen und wurde einmal als "gefährlichste Frau der USA"
bezeichnet. Sie war mehrmals verheiratet, pflegte die "freie Liebe" und
setzte sich für Schwangerschaftsunterbrechung ein.

Erfolgreich war sie auch nicht im traditionell-privaten Sinne: Sie hatte
keine Familie mit Kindern und Enkeln, die sich um Mutter und Oma sorgten und
sie lebte auch nicht mit einem "treu liebenden" Ehemann "bis ans Ende des
Lebens" glücklich zusammen. Und auch im wirtschaftlichen Sinne war sie wenig
erfolgreich: Sie hatte weder ein Vermögen noch ein Haus noch eine
karriereorientierte Berufsbiographie oder Ausbildung. Sie lebte oft von der
Hand in den Mund und befand sich einen Großteil ihres Lebens auf der Flucht,
im Gefängnis, auf anstrengenden Vortragsreisen oder in der
Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Urlaub und Freizeit kannte sie
nicht.

Was ist also das "Erfolgreiche" in ihrem Leben? Sie war und ist erfolgreich
im politisch-emanzipatorischen Sinne. Sie hat den herrschenden Verhältnissen
auf die "Finger geklopft".

Sie konnte sie zwar unmittelbar nicht verändern, sie hinterließ jedoch
nachhaltige Spuren als Frauenrechtlerin, als Bildungspolitikerin und als
Revolutionärin. Sie war jedoch keine Theoretikerin und hinterließ auch kein
publizistisches "Lebenswerk", das in die "Große Bibliothek des 20.
Jahrhunderts" eingeordnet werden könnte. Ihre Publikationen waren Kampf- und
Agitationsschriften. Sie war eine Frau des Wortes, nicht der Schrift.

Sie konnte Menschen für die Freiheit "face to face" begeistern, sie gab
Menschen Mut, sich für ihre Belange gegenüber herrschenden Dritten zu
wehren.

Wir spüren bei Goldman neben ihrem Mut aber auch so etwas wie Demut vor dem
Leben und der Freiheit des Menschen. Sie litt vermutlich auch - und dies
sehen wir besonders in ihren Liebesbriefen - unter der Dynamik und
Erwartungshaltung ihrer Popularität. Ihre politische und kognitive Stärke
und Disziplin machte sie einerseits erfolgreich und berühmt und andererseits
verarmte ihre emotionale Seite. Als Pädagogin in einer vor ihr
mitbegründeten Ferrer-Schule wäre sie vielleicht fehl am Platz gewesen. Die
Fotos, die wir von ihr kennen, zeigen keine lachende Emma Goldman. Sie
wirkte stets ernst, konzentriert und angespannt. Auf einem Foto von 1938 -
zwei Jahre vor ihrem Tod - im Kreise spanischer CNT-FAI-Genossen während des
spanischen Bürgerkrieges hinterlässt dieser ernste Gesichtsausdruck einen
erschöpften und verbitterten Eindruck (vgl. Falk 1987, Foto Nr. 39/41). Ist
dies der Preis einer "erfolgreichen" Revolutionärin, die für Generationen
von Männern und Frauen zum Vorbild wurde?

Goldman ist im 20. Jahrhundert zu einer Ikone des Widerstands gegen
Unterdrückung und Tyrannei geworden.

Sie lebte ihr Leben stolz, aufrecht, mutig und demütig. Sie zählt zu den
großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und verdient Beachtung als Frau
und Revolutionärin.

Ulrich Klemm


Zum Autor

Prof. Dr. phil. Ulrich Klemm, Diplom-Pädagoge, Honorarprofessor für
Erwachsenenbildung an der Uni Augsburg, Mitinhaber des Verlages Klemm &
Oelschläger, 20 Jahre Fachbereichsleiter an der Ulmer Volkshochschule,
derzeit Unternehmensberater im Gesundheitswesen.

Neuere Veröffentlichungen u.a. Leo Tolstoi - Libertäre Volksbildung (2004),
Francisco Ferrer (2004), Lernen für die Eine Welt (2005), Freiheit &
Anarchie. Eine Einführung in den Anarchismus (2005)


Literatur

Abbott, L.: Das Ideal libertärer Erziehung. In: H. Baumann/U. Klemm (Hg.):
Anarchismus und Schule. Werkstattbericht Pädagogik, Bd. 2.
Grafenau-Döffingen 1988, S. 111-115; erstmals in: Mother Earth, Nr. 2/1911,
S. 118-121

Avrich, P.: The Modern School Movement. Anarchism and Education in the
United States. Princeton 1980

Ahrens, H./Degen, H.-J./Geist, Ch. (Hg.): "Tu was Du willst" Anarchismus -
Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Berlin 1980, 2. Aufl. Berlin 1987

Berkman, A.: Die Tat. Gefängniserinnerungen eines Anarchisten. Berlin 1927,
Frankfurt a.M. 1976 (erstmals New York 1912)

Berkman, A.: ABC des Anarchismus. Berlin 1982 (erstmals New York 1929)

Borries, A. von/Brandies, I. (Hg.): Anarchismus. Theorie/Kritik/Utopie.
Frankfurt a.M. 1970

Blankertz, St.: Legitimität und Praxis. Öffentliche Erziehung als
pädagogisches, soziales und ethisches Problem. Studien zur Relevanz und
Systematik angelsächsischer Schulkritik. Wetzlar 1989

Cleyre, V. de: Francisco Ferrer. In: Der Sozialist, Nr. 17/1914, S. 133-135;
Nr. 18/1914, S. 138-14; Nr. 19/1914, S. 148-150; Nr. 20/1914, S. 156-157;
Nr. 21/1914, S. 164-166

Degen, H.-J./Knoblauch, J.: Anarchismus. Eine Einführung. Stuttgart 2006

Dennison, G.: Lernen und Freiheit. Aus der Praxis der First Street School.
Frankfurt a.M. 1971 (erstmals engl. 1969)

Falk, C.: Liebe und Anarchie & Emma Goldman - Ein erotischer Briefwechsel.
Eine Biographie. Berlin 1987 (erstmals New York 1984)

Goldman, E.: The Child and its enemies. In: Mother Earth, Nr. 2/1906, S.
7-14

Goldman, E: La Ruche. In: Mother Earth, Nr. 9/1907, S. 388-394

Goldman, E: F. Ferrer. In: Mother Earth, Nr. 9/1909, S. 275-278

Goldman, E: Die Ursachen des Niedergangs der Russischen Revolution. Mit
einem Vorwort von Rudolf Rocker. Berlin 1922; Reprint unter dem Titel: Der
Bolschewismus: Verstaatlichung der Revolution. Berlin 1968, veränderte
Neuauflage 1970

Goldman, E.: Anarchism and other Essays. With a new Introduction by Richard
Drinnon. New York 1969 (erstmals New York 1911)

Goldman, E: Francisco Ferrer and the Modern School. In: E. Goldman:
Anarchism and other Essays. New York 1969(a), S. 145-166

Goldman, E: Das Tragische an der Emanzipation der Frau. Reihe: Frauen in der
Revolution, Bd. 2. Berlin 1977

Goldman, E: "Living My Life". Gelebtes Leben. 3 Bde. Berlin 1978(a), 3.
Aufl. Bd. 1 1988, 3. Aufl. Bd. 2 1990, 2. Aufl. Bd. 2 1990; erstmals engl.:
Living my Life, New York: Alfred A. Knopf 1931, 2 Bde., 993 und XVI S. in
Groß-Oktav

Goldman, E.: Anarchismus - seine wirkliche Bedeutung. Anarchistische Texte
11. Berlin 1978 (b), 2. Aufl. 1981

Goldman, E.: Widerstand. Hrsg. von der Anarchistischen Vereinigung
Norddeutschland. Meppen/Ems 2. Aufl. 1983

Grunder, H.-U.: "Wir fordern alles". Weibliche Bildung im 19. Jahrhundert.
Grafenau 1988

Grunder, H.-U.: Theorie und Praxis anarchistischer Erziehung. 2.
überarbeitete Aufl. Grosshöchstetten und Bern 1993

Karasek, H. (Hg.): 1886. Haymarket. Die deutschen Anarchisten von Chicago.
Berlin 1975

Klemm, U.: Francisco Ferrer. Ein libertärer Schulreformer im Kontext der
Bildungsgeschichte. Hilterfingen 2004

Kropotkin, P.: Memoiren eines Revolutionärs. Frankfurt a.M. 1969; erstmals
New York 1899

Nettlau, M.: Anarchisten und Syndikalisten - Teil 1. Geschichte der
Anarchie. Band V. Vaduz 1984

Nuhn, H.: August Spies. Ein hessischer Sozialrevolutionär in Amerika. Opfer
der Tragödie auf dem Chicagoer Haymarket 1886/87. Kassel 1992

Oberländer, E. (Hg.): Anarchismus. Olten 1972

Rammstedt, O. (Hg.): Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der
Gewalt. Köln/Opladen 1969

Rocker, R.: Zum Geleit. In: E. Goldman: Die Ursachen des Niedergangs der
Russischen Revolution. Berlin 1922, S. 3-8

Rocker, R.: Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten. Frankfurt a.M.
1974

Veysey, L.: The Communal Experience. Anarchist and Mystical Counter-Cultures
in America. New York u.a. 1973



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CONTRASTE - Monatszeitung für Selbstorganisation
http://www.contraste.org
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CONTRASTE - LIST at Yahoo!Groups
http://de.groups.yahoo.com/groups/contraste-list
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NB1. via yahoogroups lief die erste contraste-liste viele jahre
NB2. und angesichts der aktuellen lage in den usa diese wdh ...