On 5/23/10, Contraste e.V. <contraste@online.de> wrote:
>
>
> -------- Original-Nachricht --------
> Betreff: "The Coming Insurrection" (Der kommende Aufstand) -
> Buchrezensionen in Freitag, taz u.a.
> Datum: Sun, 23 May 2010 03:06:03 +0200
> Von: Der kleine Dienstag <derkleinedienstag@jpberlin.de>
> An: Der kleine Dienstag <derkleinedienstag@jpberlin.de>
>
>
>
> Der Freitag
> http://www.freitag.de/kultur/1020-ein-linkes-manifest-als-bestseller
>
> 19.05.2010 | Florian Schmid
>
> Ein linkes Manifest als Bestseller
>
> "Früher oder später wird der Zusammenbruch eintreten": Warum das anonym
> verfasste Werk „The Coming Insurrection" ein internationaler Erfolg wurde
>
> Nicht zuletzt durch den Alarmismus eines Berliner Polizeipräsidenten und
> eines Hamburger Verfassungsschutzpräsidenten, die jüngst eine steigende
> Gewaltbereitschaft der radikalen Linken beobachtet haben wollen, ist die
> Szene zurück in den Schlagzeilen. Das schwarze Gespenst geht wieder um.
> Überwiegend wird dabei die außerparlamentarische linke Bewegung von
> selbsternannten Experten als uniformer, Hasskappen tragender,
> extremistischer Block beschrieben. Inhaltliche und organisatorische
> Ausdifferenzierungen werden kaum reflektiert.
>
> Wie sich also dem Selbstverständnis, den politischen Zielsetzungen und den
> historischen Entwicklungslinien einer mittlerweile globalisierten
> linksradikalen Bewegung annähern? Hilfreich könnte ein Buch sein, das seit
> einiger Zeit weltweit Furore macht und auch hierzulande immer mehr Leser
> findet: The Coming Insurrection. Im Original ist das gut 100 Seiten
> umfassende Manifest bereits 2007 in Frankreich erschienen. Auf Deutsch [1]
> gibt es den Text bisher noch nicht vollständig, die englische Version ist
> seit vergangenem August im hiesigen Buchhandel erhältlich und auf
> verschiedenen Seiten im Netz online [2][3] verfügbar.
>
> Proteste in Frankreich
>
> „Es ist nicht mehr die Zeit den Zusammenbruch vorherzusehen oder seine
> erfreuliche Möglichkeit zu erläutern. Früher oder später wird er eintreten;
> es gilt, sich darauf vorzubereiten. Es geht nicht darum, das Schema dafür zu
> entwerfen, was ein Aufstand sein sollte, sondern darum, die Möglichkeit des
> Aufruhrs auf das zurückzuführen, was er nie hätte aufhören sollen zu sein:
> der lebendige Schwung der Jugend ebenso sehr wie die populäre Weisheit.
> Unter der Bedingung, dass man sich zu bewegen weiß, ist das Fehlen eines
> Schemas kein Hindernis, sondern eine Chance. Für die Aufständischen ist dies
> der einzige Raum, der ihnen das Wichtigste garantieren kann: die Initiative
> zu behalten."
>
> Entstanden ist The Coming Insurrection unter dem Eindruck der sozialen und
> politischen Proteste in Frankreich, die ihren Anfang im Herbst 2005 in den
> Banlieues nahmen und 2006 die Innenstädte und das akademische Milieu im Zuge
> der Aktionen gegen das sogenannte Erstanstellungsgesetz erreichten. Als
> Verfasser firmiert ein anonymes Autorenkollektiv namens „The Invisible
> Committee", „Das Unsichtbare Komitee". Vermutet wird dahinter, unter anderem
> von der französischen Staatsanwaltschaft, eine Gruppe um den heute
> 36-jährigen, aus Bordeaux stammenden Julian Coupat, der bereits als zentrale
> Figur eines Autorenkollektivs mit zahlreichen Veröffentlichungen unter dem
> Pseudonym Tiqqun in Erscheinung getreten ist. In einem stark von Giorgio
> Agamben beeinflussten Tiqqun-Text (Einführung in den Bürgerkrieg) findet
> „Das Unsichtbare Komitee" eine erste Erwähnung als revolutionärer Pol einer
> Imaginären Partei.
>
> Linksradikaler Populismus?
>
> Faszinierend an The Coming Insurrection ist sein Sound. Einerseits ein
> linker Theorietext, der eher schwergängigen Fragestellungen wie aktuellen
> Subjektkonstituierungsprozessen, einer kybernetischen Hypothese und
> biopolitischen Akkumulationsprozessen nachgeht, liest sich dieses
> postsituationistische Manifest andererseits wie ein aufrührerisches Stück
> Hip-Hop, das die kreisenden Hubschrauber der Polizei ebenso wie die Riots am
> Boden in starke sprachliche Bilder umsetzt.
>
> „Eine revolutionäre Bewegung breitet sich nicht durch Ansteckung aus,
> sondern durch Resonanz. Etwas, das an dieser Stelle entsteht, hallt wider in
> der Druckwelle dessen, was an jener Stelle entstanden ist. Ein Körper, der
> von etwas widerhallt, tut dies auf seine eigene Art und Weise. Ein Aufstand
> ist nicht vergleichbar mit der Ausbreitung einer Pest oder eines Waldbrandes
> – einem linearen Prozess, der nach einem initialen Funken von einem Ort zum
> nächsten überspringt. Es handelt sich vielmehr um etwas, das wie eine Musik
> Gestalt annimmt. Den Brandherden eines Aufstands, seien sie auch verstreut
> in Zeit und Raum, gelingt es, den Rhythmus ihrer eigenen Schwingung
> durchzusetzen und immer weiter auszubauen – bis jegliche Rückkehr zur
> Normalität nicht mehr wünschenswert oder gar denkbar ist."
>
> An einigen Stellen wird der Text dann auch sehr konkret und bezieht sich auf
> die jüngsten Ereignisse in Frankreich. Waren die Aufstände in den Banlieues
> ein Konflikt derer, die nichts besitzen? Von wegen, sie waren Ausdruck einer
> kompletten Verfügungsgewalt der Aufständischen über ein urbanes Territorium.
> Populistisch? Vielleicht, aber auch sehr geschickt in Szene gesetzte Theorie
> und mitreißend in der Lektüre. Dieser schriftstellerisch durchaus
> anspruchsvolle Revoltengeist blieb nicht ohne Reaktion.
>
> Im November 2008 nahm die französische Polizei in dem französischen Dorf
> Tarnac Coupat und acht weitere Personen fest, die angeblich
> Hakenkrallenanschläge auf TGV-Oberleitungen verübt haben sollen.[4][5]
> Darüber hinaus wurde ihnen vorgeworfen, The Coming Insurrection verfasst zu
> haben. Die französische Innenministerin Michèle Alliot-Marie sprach von
> einer „anarcho-autonomen Kommune". Zu Zeugenvorladungen kam es in diesem
> Zusammenhang außerdem in Berlin und Hamburg.
>
> Was Züge eines Einschüchterungsversuches trägt, wurde ungewollt zu einer
> regelrechten Werbekampagne für das Büchlein, das andernfalls kaum solche
> Beachtung gefunden hätte und womöglich im linken Infoladen verstaubt wäre.
> Julian Coupat, der mit dem Philosophen Giorgio Agamben befreundet ist,
> erhielt nach seiner Verhaftung von seinem Freund hochkarätige Unterstützung
> durch einen offenen Brief in der Tageszeitung Libération.
>
> Neben Julian Coupat wurde dessen Lebensgefährtin Yldune Levy inhaftiert, die
> Tochter eines bekannten Akteurs der 68er Bewegung, der mit Daniel
> Cohn-Bendit befreundet ist. Coupat und Levy, von den französischen
> Boulevardmedien zum Terroristenpaar hochstilisiert, saßen mehrere Monate in
> Untersuchungshaft, wurden aber schließlich unter Auflagen freigelassen. Als
> weitere Prominente wurde auf dem Biobauernhof in Tarnac Aria Thomas
> festgesetzt, Star einer Fernsehsoap, in der sie die rebellische Tochter von
> Lolita Morena spielte, der Ex-Frau von Lothar Matthäus.
>
> Schließlich setzte im Sommer 2009 Glen Beck, Kommentator des
> US-amerikanischen Fernsehsenders Fox, anlässlich der Veröffentlichung von
> The Coming Insurrection in den USA noch einen drauf. Er warnte vor einem
> Werk, das seiner Meinung nach ein Ende der westlichen Zivilisation
> herbeiführen will. Unterlegt wurden Becks Beschwörungen mit Bildern von
> griechischen Straßenschlachten und Demonstrationen der kommunistischen
> Partei Japans. Hierzulande zitieren linksradikale Akademiker ab einem
> bestimmten Alkoholpegel gerne mal unter fröhlichem Gelächter aus dieser
> biblisch anmutenden Warnung, die auf Youtube mittlerweile zehntausende Male
> angeklickt wurde.
>
> Nihlistische Grundhaltung
>
> The Coming Insurrection ist weder eine Anleitung für Straßenschlachten noch
> ein umfassendes politisches Grundsatzpapier. Es ist vielmehr der Versuch,
> linke bzw. postmarxistische Theorie mit sehr deutlichen anarchistischen
> Anklängen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Frage ist,
> inwieweit das wirklich gelingt. Auf dem Schulhof ließe sich das Büchlein
> kaum sinnvoll verteilen, dafür ist es zu theorielastig. Für das
> kulturwissenschaftliche Doktorandenkolloquium ist es aber auch nicht
> geeignet. Dieser Hybridstatus markiert sowohl Stärke als auch Schwäche des
> Textes: so lesbar er ist, so beliebig ist er in seiner nihilistischen
> Grundhaltung.
>
> Inhaltlich schlägt The Coming Insurrection einen weiten Bogen. Es geht um
> die Machbarkeit von Revolten oder Aufständen in historischer Perspektive bis
> hin zu Strategien gegen kapitalistische Entfremdung. Der zentrale Begriff
> dabei ist Selbstorganisation. Fast schon beschwörend wird vor Institutionen
> wie Parteien, Gewerkschaften, aber auch Vollversammlungen gewarnt. Einzig
> die „commune" könne verhindern, dass die Revolte durch den Kapitalismus
> assimiliert und neutralisiert wird.
>
> „Wenn wir vom Empire sprechen, benennen wir die Dispositive der Macht, die
> präventiv, chirurgisch, jegliches revolutionäre Werden einer Situation
> ausschalten. Diesbezüglich ist das Empire kein Feind, der uns
> gegenübersteht. Es ist ein Rhythmus, der sich aufdrängt, eine Art und Weise,
> die Realität ablaufen und vergehen zu lassen. Es handelt sich also weniger
> um eine Ordnung der Welt, als um deren traurigen, drückenden und
> militärischen Lauf."
>
> Es wundert nicht, dass die „commune" nicht genau gefasst wird. Um möglichst
> autonom zu leben, wird unter anderem empfohlen, nicht arbeiten zu gehen, die
> medizinische Selbstversorgung zu organisieren und wenn möglich Lebensmittel
> selbst anzubauen. Dabei sollte die „commune" in erster Linie als Prinzip
> sozialer Beziehungen verstanden werden, nur sehr bedingt als
> Organisationsform. Man mag dabei unwillkürlich an Hakim Beys Autonome
> Temporäre Zone denken. Als historische Referenzpunkte dienen dem
> „Unsichtbaren Komitee" die Selbstorganisation in New Orleans nach dem
> Hurrikan Katrina 2005 oder die Aufstände in Algerien 2001 und im
> mexikanischen Oaxaca 2006.
>
> Skeptisch muss man die Durchschlagskraft des Manifests in der deutschen
> Szene bewerten. Während die nihilistische und anarchistische Grundhaltung
> des Textes mit der linken Bewegung hierzulande dann doch nur begrenzt
> kompatibel scheint, hat The Coming Insurrection in den USA im Zuge des New
> Anarchism eine breite Rezeption erfahren. Die strikte Ablehnung gängiger
> politischer Organisationsformen und die Vorstellung von einer dezentralen,
> spontanen, nicht steuerbaren Aufeinanderfolge von Revolten, mögen für
> hiesige Verhältnisse exotisch wirken, andernorts treffen sie scheinbar einen
> Nerv.
>
> The Coming Insurrection
> The Invisible Committee,
> Semiotext(e) Intervention,
> Mit Press, 136 S., 9,20 EUR
>
>
> [1] http://www.grundrisse.net/grundrisse32/der_kommende_aufstand.htm
> [2] http://tarnac9.wordpress.com/texts/the-coming-insurrection/
> [3] http://cyberpunk.blogsport.de/2009/07/06/
> [4] http://www.woz.ch/artikel/rss/17528.html
> [5] http://tinyurl.com/2ah9gpp
>
>
> ========================================================================
>
>
> taz.de
> http://www.taz.de/1/debatte/theorie/artikel/1/revolution-mit-melancholie/
>
> 10.11.2009 | 15 Kommentare
>
> Revolution mit Melancholie
>
> Das Büchlein "The Coming Insurrection" (Der kommende Aufstand) ist der
> aktuellste Versuch, ultralinker Politik ein glamouröses Antlitz zu
> verpassen.
>
> VON ARAM LINZEL
>
> Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsfraktion der
> Grünen und freier Publizist in Berlin
>
> Seit ein paar Monaten liegt an den Verkaufstresen der zwei oder drei kleinen
> Berliner Polit- und Kunstbuchhandlungen meiner Wahl prominent platziert ein
> handliches blaues Buch aus. "The Coming Insurrection" (Der kommende
> Aufstand) heißt es, der Verfasser ist ein anonymes Autorenkollektiv namens
> The Invisible Committee. Mediale Aufmerksamkeit erlangte diese Gruppe, als
> im November 2008 die sogenannten Tarnac 9 festgenommen wurden, ein in dem
> französischen Dorf Tarnac lebendes Kollektiv, das beschuldigt wurde,
> Zugstrecken lahmgelegt zu haben.
>
> Ein Mitglied der Tarnac 9, Julien Coupat, wurde als einer der Autoren des
> blauen Buchs ausgemacht, was er jedoch abstritt. Vertreter des französischen
> Staates lasen "Linsurrection qui vient" wegen einiger Passagen, die von
> Bewaffnung handeln, als Anleitung zum Terrorismus. Im August 2009
> veröffentlichte der US-Verlag semiotext(e) die englische Übersetzung.
>
> Das Buch ist der aktuellste Versuch, ultralinker Politik ein glamouröses
> Antlitz zu verpassen. Situationismus, Autonomen-Anarchismus und Punkpoesie
> werden darin zu einem knackig formulierten Pamphlet gemixt. Es gibt herrlich
> resignierende Sätze wie diesen: "Das Paar ist die letzte Phase des großen
> sozialen Debakels."
>
> Überhaupt gefallen sich die Autoren in der Pose der heroischen
> Melancholiker. Der Kapitalismus ist unschlagbar, eine Revolution
> unwahrscheinlich - und genau deswegen muss man genau jetzt den Aufstand
> wollen. Ihr praktischer Vorschlag: Kommunen bilden! Nur so könnten die
> kapitalistische Maschine und ihre Kommunikationsflüsse unterbrochen werden.
>
> Im argumentativen Zentrum steht die Gegenüberstellung von "echter" und
> "entfremdeter" Politik. Die Kommune der Gleichgesinnten: das schöne Reich
> der Unmittelbarkeit. Das parlamentarische System: das hässliche Theater der
> Repräsentation. Einmal mehr wird Rousseaus Traum von einer authentischen
> Gesellschaft ohne Konflikte geträumt. Über den repressiven (und regressiven)
> Charakter politischer Unmittelbarkeit machen sich die Autoren allerdings
> ebenso wenig Gedanken wie über die Frage, wie in einer globalisierten
> Gesellschaft ohne Repräsentation eine Politik möglich sein soll, die die
> Interessen möglichst vieler Menschen berücksichtigt. Auch vermisst man eine
> kritische Reflexion darüber, warum wohl das alte linke Ideal der
> Selbstbestimmung auf den neoliberalen Hund gekommen ist - Stichwort
> "Eigenverantwortung".
>
> Nichtsdestotrotz erlebt diese Art von Textproduktion gerade eine kleine
> Konjunktur. Bei Merve erscheint in diesen Tagen "Grundbausteine einer
> Theorie des Jungen-Mädchens" von Tiqqun. Tiqqun ist ein Kollektiv, das mit
> dem Invisible Committee personell verwoben ist. Genaues soll niemand
> erfahren, mit Versteckspielchen verweigert man sich den
> Sichtbarkeitsimperativen des Web 2.0.
>
> "Grundbausteine einer Theorie des Junge-Mädchens" ist Konsumkritik alter
> Schule in der Maske des Neuen. Die Figur des "Junge-Mädchens" stehe für den
> "Modell-Bürger, wie die Warengesellschaft ihn seit dem Ersten Weltkrieg als
> explizite Antwort auf die revolutionäre Bedrohung neu definiert hat". Sie
> verkörpert "die Fülle der uneigentlichen Existenz". Wieder ist der Gegensatz
> denkbar schlicht. Hier die wahren und "eigentlichen" Bedürfnisse, dort das
> Spektakel, das uns verblendet und mit Falschem zudröhnt. Und der Staat? Er
> ist laut Tiqqun natürlich nichts anderes als der große Fiese, der unsere
> Begierden unterdrückt. Repressionshypothese revisited?
>
> Mit derartigen Grobschnitzereien bedient dieser Diskurs das grassierende
> Ressentiment gegen repräsentative Demokratien und ihre Institutionen.
> Nichteinverstandensein einfach gemacht. Der Situationismus-Update veredelt
> diese Haltung mit Theorieglamour und dem Nimbus des Radikalen. So bekommt
> der Leser das gute Gefühl, sich vom gewöhnlichen Protest-Nichtwähler
> kulturell zu unterscheiden. Mit ihrem Kult der Unmittelbarkeit sind diese
> Publikationen Anleitungen zur Regression in eine vielleicht verführerische,
> aber letztlich klaustrophobische Politidylle.
>
>
> ========================================================================
>
>
> Unsere HU
> http://web191.srv7.sysproserver.de/hu/2009/12/09/462/
>
> Studierendenproteste weltweit: Affirmation als Negation
>
> (Kurzrezension)
>
> Written by Jan. Posted on 12/09/2009.
>
> Die Studierendenproteste der letzten Tage im Iran werden brutal zerschlagen;
> in Griechenland, in Berkeley und in Frankfurt ist die Antwort auf die
> Proteste, in sehr unterschiedlichem Ausmaß, staatliche Gewalt. Die
> Unfähigkeit und der Unwille zentraler Entscheidungsträger auf die
> Forderungen, auf die Zeitenkrise(n) überhaupt, adäquat zu reagieren,
> diskreditiert sie und zwar von Grund auf.
>
> In den USA hat sich in den letzten Monaten eine (studentische)
> Protestbewegung formiert, die zweifellos noch klein ist und nur punktuell in
> Erscheinung tritt. Mit der Schrift "Communique from an Absent Future: The
> Terminus of Student Life" [1] ist sie von einem ebenso kraftvollen wie
> stilistisch anspruchsvollen Manifest begleitet. Die harsche Ablehnung von
> "Reformen" mag unnötig scheinen, könnten diese doch als Fußhalt für den
> nächsten Schritt über sie selbst hinaus verstanden werden. Auch verharrt das
> Pamphlet, trotz seiner Prägnanz und analytischen Schärfe, vielleicht, nur
> vielleicht, zu sehr im Gestus bloßer Negation, was es hier und dort ins
> schlecht-pathetische abgleiten lässt. Bei aller möglichen Kritik jedoch
> trifft es einen entscheidenden Nerv: Die Notwendigkeit grundsätzlicher
> Veränderung sowie eines Eingreifens, das auf diese zielt und in die
> gegenwärtige Situation nicht wieder integrierbar ist. Die Universität ist
> nur ein Ort, an dem dies heute deutlich wird.
>
> Merklich inspiriert, nicht nur stilistisch, ist der Text durch ein anderes
> Büchlein [2] politisch-philosophischer Prosa, das, aus Frankreich kommend,
> in den USA gegenwärtig hohe Wellen schlägt. Nicht nur hat es die "Beste
> Rezension 2009" [3] hervorgebracht (der Rezensent gibt sie, noch bevor er
> das Büchlein "The Coming Insurrection" gelesen hat), sondern, ob seiner
> treffenden Zeitanalyse, eventuell auch das Potenzial eine ins Nihilistische
> neigende junge Generation zu erreichen. Deren Politisierung, die jenseit von
> Konsumentscheidungen liegt, wäre für eben jene "Insurrection" freilich
> unerlässlich. Der negatorische Effekt des viel diskutierten Textes, in dem
> politische Gegenwartsphilosophie von Agamben über Badiou bis Ranciere und
> Zizek widerklingt, steht nicht für sich, sondern ist Effekt einer
> (subtraktorischen) Affirmation von Wahrheiten.
>
> Und wenn dies auch dem "Communique" nicht abgesprochen werden können sollte,
> gerät "The Coming Insurrection" so doch weniger schnell in den Sog eines all
> zu vertraut anmutenden post-situationistischen Stils. Die Feststellung einer
> grundsätzlichen, nicht nur institutionellen sondern auch moralischen
> "bankruptcy" des Bildungssystems, des institutionellen 'politischen' Gefüges
> sowie einige praktische Implikationen jedoch sind beiden Texten gemeinsam.
> Gelesen und diskutiert werden, sollten sie allemal; und die links
> getwittert, versteht sich.
>
> [1] http://tinyurl.com/yee5xka
> [2] http://tarnac9.wordpress.com/texts/the-coming-insurrection/
> [3] http://www.youtube.com/watch?v=pWZasFNksLw
>
>
> Hier noch ein Link zu diesem aufgeregten Typen, der das Buch benutzt, um
> seinen eigenen vergilbten Schinken nochmal ins Spiel zu bringen. Der ist
> wirklich toll.
> http://www.youtube.com/watch?v=ZK3whW3YdK4
>
> Nur muss er, wie Nancy Fraser lehrt, die Ideen die er verwerfen will,
> referieren, noch um sie zu verwerfen.
>
> Allerdings handelt es sich nicht um einen Aufruf zu bewaffnetem Kampf. Dies
> freilich behauptet die 'Konterrevolution' seit jeher, um die legitimen
> Forderungen revolutionärer sozialer Bewegungen in Blut zu ersticken: Chaos
> drohe, die Ordnung müsse gewahrt werden, um jeden Preis. Das Bewusstsein
> denn, erst der sich formierenden Gewalt der Konterrevolution, bringt auch
> die Möglichkeit(!) der bewaffneten Selbstverteidigung auf den Plan.
>
>
> Yo!
> http://www.youtube.com/watch?v=T-lKTzLS6V0
> http://www.youtube.com/watch?v=Ib1CPGGQN1o
>
>
> Eine Übersetzung von "Communique from an Absent Future: The Terminus of
> Student Life" ist hier zu finden.
> http://tinyurl.com/ykzbqt5
>
> Auch das Vorwort zur englischen Ausgabe von L´insurrection qui vient [Der
> kommende Aufstand] wurde im Umfeld der Grundrisse angegangen:
> http://www.grundrisse.net/grundrisse32/der_kommende_aufstand.htm
>
> Beim Verlag Diaphanes wird demnächst eine Sammlung von Texten aus der
> Studierendenprotestbewegung in den USA erscheinen.
>
>
> ========================================================================
>
>
> grundrisse #31 [2009]
> http://www.grundrisse.net/buchbesprechungen/invisible_committee.htm
>
> The Invisible Committee: The Coming Insurrection
>
> Das Buch wurde im Anschluss an die Krawalle in den Vorstädten vieler
> französischer Städte 2005 geschrieben und erschien auf Französisch im März
> 2007. Größere Aufmerksamkeit erlangte es durch die Festnahme der „Tarnac 9",
> einer Gruppe von Menschen, die aus der Stadt aufs Land gezogen waren. Im
> November 2008 wurden sie beschuldigt, einen TGV-Zug mit Hakenkrallen lahm
> gelegt zu haben (eine Technik, die in Deutschland als Widerstandsaktion
> gegen Atommülltransporte sehr beliebt war), außerdem wurde Julien Coupat
> beschuldigt „L´insurrection qui vient" geschrieben zu haben – was dieser
> abstritt, jedoch zugab, dass er den Text bewundere. Schon vor dem Erscheinen
> der englischen Ausgabe im August 2009 erregte der Text Aufsehen durch eine
> unautorisierte Lesung in einer New Yorker Buchhandlung einschließlich eines
> Polizeieinsatzes und auch weil der konservative Talkmaster Glenn Beck im
> Fernsehen eine Bedrohung durch eine extreme Linke an die Wand malte, die zu
> den Waffen rufe. Es handelt sich um einen Text, in einem autonomen Vokabular
> geschrieben, beeinflusst durch den Situationismus, der die herrschende
> Gesellschaft darstellt und dazu aufruft, sich dagegen zu organisieren und
> sich auf den kommenden Aufstand vorzubereiten.
>
> Die politische Repräsentation ist an ein Ende gekommen. Die Linke wählt nur
> noch aus Protest, während parallel dazu Bewegungen auftauchen, die nach
> keiner Repräsentation mehr suchen wie beispielsweise die Aufstände in
> Argentinien 2001 / 2002 („Que Se Vayan Todos", also „Alle sollen abhauen")
> oder die Unruhen in den Banlieues 2005. Aufstände, die ihren Hass auf die
> herrschende Gesellschaft ausdrücken und worauf die Antwort der Herrschenden
> Repression und die Produktion von Angst sind.
>
> In sieben Abschnitten geht es um die Beschreibung der herrschenden
> Gesellschaft in ihren Widersprüchen.
>
> 1) Ziel des aktuellen Kapitalismus ist die Selbstverwirklichung. Ein großer
> Teil der Bevölkerung scheitert daran und das Leiden wird medikamentös
> bekämpft. Das Krank-Werden ist aber auch ein Ausdruck des Widerstands (We
> are not depressed; we are on strike).
>
> 2) Traditionelle Gemeinschaften wie Communitys und Familien zerfallen. Der
> Rassismus gegen die Unterprivilegierten, etwa in den Vorstädten, ist
> eigentlich der Neid, dass dort noch so etwas wie Gemeinschaft existiert. Das
> sollte als Chance gesehen werden, weil es die Möglichkeiten schafft, mit
> neuen Formen des Zusammenlebens zu experimentieren.
>
> 3) Gerade jetzt, wo die (geregelte) Arbeit am Verschwinden ist, wird die
> Arbeit am meisten ideologisiert. Von den technologischen Möglichkeiten her
> genügte relativ wenig „Arbeit". So werden jetzt Produzent_innen und
> Konsument_innen erzeugt (immer mehr persönliche Dienstleistungen) und nicht
> mehr Produkte. Darum der Hass auf jene, die sich gegen die Arbeit
> organisieren.
>
> 4) Es gibt keine Städte mehr, sondern nur noch Metropolen, und diese werden
> immer mehr zu direkten Kriegszonen. Ein Krieg, der manchmal nicht offen
> geführt wird, aber sichtbar wird etwa in der Behandlung der Banlieus vor und
> nach den Aufständen. Diese Metropolen sind immer mehr abhängig von
> Kommunikation und Verkehr. Diese „Flüsse" sind jedoch viel verletzbarer
> durch Angriffe und Unterbrechungen.
>
> 5) Nicht die Wirtschaft ist in der Krise, sondern die Wirtschaft ist die
> Krise. Organisationen wie ATTAC glauben die Wirtschaft vor den Krisen zu
> retten, dabei retten sie die Ursachen der Krisen, nämlich den Kapitalismus.
> Ähnliches gilt für jene, die an einen ökologischen Kapitalismus glauben, der
> genauso auf Arbeit und Ausbeutung basiert.
>
> 6) Es gibt keine Umweltkatastrophe, sondern die kapitalistische Umwelt ist
> die Katastrophe. So sollte mensch die Krisen nützen und nicht auf einen
> Umweltdiskurs einsteigen, der z.B. dazu führen kann, dass Atomkraftwerke
> wieder salonfähig werden. Die Katastrophen ereignen sich ja, weil der
> Kapitalismus funktioniert. Wir sollten uns auf die Möglichkeiten der
> Selbstorganisation nach den Katastrophen einstellen.
>
> Nichts erscheint so unwahrscheinlich wie ein Aufstand, aber nichts ist so
> notwendig wie dieser. Bis jetzt haben alle Versuche der radikalen Linken in
> ihrer Organisationsstruktur den Staat im Miniformat kopiert (selbst wenn sie
> sich nicht an Wahlen beteiligten, sondern Community-Arbeit machten). Der
> Anfang aber muss ein anderer sein: 1940 ging der erste Resistance-Kämpfer in
> den Maquis, ein „madman", 1944 waren es bereits 20.000 „Verrückte" in der
> Umgebung von Limoges. Die Arbeiter_innen wiederum fanden sich in den Kämpfen
> in der Fabrik zusammen, heute aber ist es der gesamte soziale Raum, in dem
> der gemeinsame Kampf gesucht werden kann und muss. Hierbei sind
> „Freundschaften" entscheidend, um die unbefriedigenden bestehenden
> Organisationsformen zu meiden. Diese laufen nämlich schlussendlich immer
> darauf hinaus, sich als Organisation zu reproduzieren. Ebenso aber sind
> soziale Milieus zu meiden, die konterrevolutionär sind, weil sie ihre eigene
> Bequemlichkeit in ihren informellen Hierarchien erhalten wollen. Die
> Alternative dazu ist die Bildung von Kommunen, die jedes Mal entstehen, wenn
> sich einige Menschen auf sich selbst verlassen: in jedem wilden Streik, in
> Hausbesetzungen, in den Aktionskomitees von 1968 oder auch Radio Alice in
> Italien 1977. Kommunen werden allerdings zu Milieus, wenn sie sich von ihren
> Ursprungsaktivitäten und Ideen lösen.
>
> Sich gegen die Arbeit zu organisieren, bedeutet, so wenig wie möglich zu
> arbeiten, indem anderweitig Geld aufgestellt wird (Sozialleistungen,
> Schwarzmarkt). Unsere Kreativität soll den Staat oder die Unternehmer_innen
> ausnützen, so gut es geht. Wir müssen lernen, wie mensch überlebt, wenn die
> Transportflüsse unterbrochen sind, so wie es notwendig ist, für den Aufstand
> zu trainieren und lernen. In den Kommunen gibt es genug unterschiedliche
> Lebenserfahrungen. Die lokale Organisation ist genauso wichtig wie die
> Kommunikation, die durch Reisen stattfindet, weil es nicht genügt (und auch
> zu sehr überwacht ist), über das Internet zu kommunizieren. Überall soll
> Widerstand geleistet werden, überall soll sabotiert werden. Es ist
> notwendig, unsichtbar zu bleiben, hauptsächlich, um der Repression zu
> entgehen, aber auch, weil Sichtbarkeit die Repräsentation durch bestimmte
> Personen befördert. Selbstverteidigung ist wichtig, aber die eigene
> Initiative ist immer noch die bessere Waffe, weil der Staat
> technisch/militärisch immer überlegen sein wird. Die vorgeschlagenen
> Organisationsformen ähneln sehr dem, was die „Autonomen" in den 1980ern
> diskutierten, die allerdings selten auf einen offenen Aufstand hofften.
>
> Die Organisation des Aufstandes beginnt in den sozialen Bewegungen:
> Besetzung von Institutionen, Blockaden der Verkehrswege, um möglichst viel
> Störung zu verursachen (die französische Regierung versucht seit den großen
> Streiks 1995, die Störungen möglichst gering zu halten). Um den Aufstand
> voranzutreiben, muss jede repräsentative Autorität in Frage gestellt werden.
> Generalversammlungen sind zu vermeiden, da sie die Tendenz haben, zu
> Miniparlamenten mit blockierenden Abstimmungen zu verkommen. Auch die
> „Koordinationen"[1] werden kritisiert, die nur eine Tribüne für eine
> entstehende „Mikro-Bürokratie" bildeten. Wenn möglich, soll jede
> Hierarchiebildung vermieden werden, wobei es kein Rezept gibt, sondern immer
> wieder neu experimentiert werden muss. Die Ökonomie muss blockiert werden,
> parallel dazu ist die Selbstorganisation des Lebens notwendig. Territorien
> sollen befreit werden, trotzdem muss versucht werden, eine direkte
> Konfrontation mit der Staatsmacht zu vermeiden. Wenn sehr viel sehr
> zerstreut passiert, kann auch die Polizei nicht adäquat eingesetzt werden.
> Und es ist notwendig, bewaffnet zu sein, um zu vermeiden, die Waffen
> einsetzen zu müssen – weil der Staat immer die besseren Waffen hat. Jeder
> erfolgreiche Aufstand war bewaffnet, aber relativ gewaltfrei, etwa weil am
> 18. März 1871 die Soldaten zur Pariser Commune überliefen. Der Aufstand muss
> auf lokalen Ebenen ablaufen, weil es kein Zentrum des Kapitalismus und des
> Staates mehr gibt, kein zu stürmendes Winterpalais.
>
> Das Vorwort zur englischen Ausgabe wurde im Jänner 2009 unter dem Eindruck
> der Unruhen in Griechenland im Dezember und einer Reihe von Kämpfen der
> Studierenden in Italien, Spanien und Frankreich geschrieben. Noch einmal
> werden wichtige Punkte erwähnt und ergänzt. Revolutionäre Bewegungen
> verbreiten sich nicht durch „Ansteckung", also Agitation und direkten
> Kontakt, sondern durch Resonanz: es kommt zu gegenseitigen Verstärkungen,
> weil von anderen Kämpfen berichtet wird, wobei immer von den eigenen
> Bedingungen ausgegangen wird. Noch einmal wird betont, dass Organisationen
> die Selbstorganisation prinzipiell behindern. Die Ausbrüche der letzten
> Zeit, insbesondere jene in Griechenland, lassen als Warnsignale den
> zukünftigen Aufstand am Horizont erscheinen.
>
> Teile der Bevölkerung von New Orleans organisierten sich nach der
> Katastrophe, machten das Leben wieder möglich und verhinderten, durch die
> Regierung zu Katastrophenflüchtlingen gemacht zu werden. Die
> Übersetzer_innen kritisieren allerdings in einer Fußnote, dass sich gerade
> dort wieder politische Repräsentation verfestigte. Das ist ein Beispiel für
> das Problem der kontinuierlichen Organisation: Es ist sehr schwierig, die
> Kritik an der Repräsentation auch in einer revolutionären Situation oder im
> Aufstand durchzuhalten. Was bei Michael Hardt und Antonio Negri genauso auf
> einer abstrakten Ebene bleibt (Konstituierende Macht vs. Konstituierte
> Macht) wie bei John Holloway (power-to-do vs. power-over), scheitert am
> konkreten Beispiel.
>
> Es werden so genannte Milieus kritisiert, aber was unterscheidet Kommunen
> von solchen Milieus oder informeller Struktur. Das bezieht sich speziell auf
> die französische Situation und deren Vielfalt von unterschiedlichen linken
> und linksradikalen Organisationen (trotzkistisch, anarchistisch, aber eben
> auch als Milieus / soziale Felder und Zusammenhänge). Es kann nicht darum
> gehen, solche Milieus in Bausch und Bogen abzulehnen, sondern permanent zu
> kritisieren, um eine Verfestigung in Repräsentationen zu erschweren.
> Erstaunlich ist auch, dass des Öfteren die Commune 1871 als Beispiel
> herangezogen wird, kaum aber der Mai 1968. Vermutlich liegt das daran, dass
> es keine davor existierenden Strukturen (außer theoretisierende
> Situationist_innen und traditionelle Linke) gab, die die Kämpfe der
> Studierenden und Arbeiter_innen auslösten.
>
> Der kämpferische Ton ist mir manchmal zu martialisch. Das korrespondiert
> auch damit, dass das Patriarchat nur an einer (relativ unwichtigen) Stelle
> erwähnt wird. An den Milieus werden entstehende informelle Hierarchien
> kritisiert, die ja oft auch und gerade geschlechtlich sind, aber es wird
> angenommen (weil es nicht diskutiert wird), dass die sich selbst gründenden
> Kommunen davon unberührt bleiben. Es sollte aber immer darum gehen, auch in
> Aufstandsbewegungen, die Geschlechterordnung in Frage zu stellen. Es gibt
> keine Lösung dafür, außer in der aktuellen Situation immer wieder darüber zu
> reflektieren und nicht einfach anzunehmen, dass jede Form von
> Selbstverwaltung gut ist (wenn auch besser als jede revolutionäre
> Bürokratie).
>
> Bevor ich „The Coming Insurrection" gelesen habe, habe ich vorgeschlagen,
> einen Arbeitskreis dazu zu gründen. Nachdem ich es gelesen habe, nehme ich
> davon Abstand, weil der Text theoretisch nicht besonders ergiebig ist. Der
> Text ist keine Aufforderung zur Gründung von Arbeitskreisen, sondern zu
> Gründung von Kommunen und / oder direkten Aktionsgruppen. Vielleicht bin ich
> zu alt dazu, ich werde doch weiter theoretisch arbeiten. An einem künftigen
> Aufstand gegen den Kapitalismus werde ich mich mit Begeisterung beteiligen.
> Aber ich werde auch kleinere emanzipatorische Bewegungen unterstützen (die
> dann wieder in den Kapitalismus integriert werden). Denn die Revolution wird
> nicht ein einziger Aufstand sein, sondern ein permanenter Prozess
> (Holloway). Außerdem arbeite ich schon jetzt an emanzipatorischen
> Veränderungen meines Alltags. Immer ein bisschen zu wenig. Vielleicht
> sollten wir doch Kommunen gründen?
>
> fuzi
>
> The Invisible Committee: The Coming Insurrection.
> Los Angeles: Semiotext(e) 2009, 136 Seiten, ca. 9 Euro
>
>
> [1] Seit 1986 (zuerst bei den Krankenschwestern, dann bei den
> Eisenbahner_innen) bildeten sich in jeden Streik „Koordinationen", die nach
> dem Kampf wieder zerfielen, aber in neuerlichen Auseinandersetzungen wieder
> bildeten. Durch ihr „Zerfallen" behinderten sie die Entwicklung von
> Bürokratien. Koordinationen, die von linken Organisationen als dauerhaftes
> Projekt gesehen wurden, wurden von den neulich kämpfenden Arbeiter_innen,
> Studierenden oder Schüler_innen nicht angenommen.
>
>
> ========================================================================
>
>
> grundrisse # 33 [2010]
> http://grundrisse.net/buchbesprechungen/invisible_committee_anmerkung.htm
>
> Anmerkungen zu Fuzis Rezension von L'insurrection qui vient / The Coming
> Insurrection
>
> Max Henninger
>
> Im Rezensionsteil der Grundrisse 31 ist das im März 2007 in Paris
> erschienene, seit 2009 auch in englischer Übersetzung vorliegende Buch
> L'insurrection qui vient (The Coming Insurrection) besprochen worden. Die
> französische Innenministerin Michèle Alliot-Marié sieht in diesem Buch das
> Werk einer terrorismusverdächtigen ‚anarcho-autonomen Strömung', wodurch es
> Gegenstand eines Prozesses geworden ist, den die französische
> Staatsanwaltschaft aktuell gegen neun im zentralfranzösischen Tarnac
> verhaftete Aktivisten anstrengt. Der Entschluss des Rezensenten Fuzi, den
> Lesern dieser Zeitschrift eine prägnante Zusammenfassung und Einschätzung
> von L'insurrection qui vient vorzulegen, scheint mir sehr lobenswert; mir
> scheint aber auch, dass wesentliche Inhalte des Buches in der Rezension auf
> falsche oder zumindest irreführende Weise wiedergegeben werden.
>
> Der erste Abschnitt von L'insurrection qui vient wird in Fuzis Rezension wie
> folgt zusammengefasst: „Ziel des aktuellen Kapitalismus ist die
> Selbstverwirklichung. Ein großer Teil der Bevölkerung scheitert daran und
> das Leiden wird medikamentös bekämpft." Diese Zusammenfassung scheint mir
> verkürzt. Es geht im ersten Abschnitt ebenso wenig wie anderswo im Buch
> darum, die kapitalistische Gesellschaft durch den Hinweis auf das Scheitern
> von Selbstverwirklichungsbemühungen anzuklagen. Es soll auch nicht primär
> auf die Benachteiligung irgendwelcher (majoritärer oder minoritärer)
> Gesellschaftssegmente aufmerksam gemacht werden; die Skandalisierung
> struktureller Ungerechtigkeit ist dem ganzen Gedankengang von L'insurrection
> qui vient fremd. Es geht vielmehr um die Entwicklung einer radikal
> anti-individualistischen Perspektive, aus der heraus sich der
> Individualismus als eine für die Warengesellschaft charakteristische
> Herrschaftsform zu erkennen gibt, die gerade über den (als Bedürfnis
> introjizierten) Imperativ der Selbstverwirklichung funktioniert. Die
> Selbstverwirklichung gelingt allen gleichermaßen schlecht, und sie muss es
> tun, weil das zu verwirklichende Selbst eine – für den Kapitalismus
> funktionale – Fiktion ist: „Das Ich ist nicht das, was bei uns in der Krise
> ist, sondern die Form, die man uns aufzuzwingen versucht" (S. 17/33;
> Seitenangaben beziehen sich hier und im Folgenden zuerst auf die
> französische und dann auf die englische Ausgabe).
>
> In dem Ausmaß, in dem sich das, was im Kapitalismus als Gesellschaftlichkeit
> durchgeht, auf Warenzirkulation reduziert, muss sich auch der
> Individualismus als Herrschaftsform durchsetzen. Der Individualismus wird in
> L'insurrection qui vient als das Trennende und Ordnende schlechthin
> begriffen; wo er triumphiert, sieht die Welt aus „wie eine Autobahn, ein
> Erlebnispark oder eine neu gebaute Stadt" (ebd.). Für die derart
> zugerichtete Welt wird im vierten Abschnitt des Buches der Begriff der
> ‚Metropole' geprägt. Zu ihm ist in Fuzis Rezension kaum mehr zu lesen, als
> dass die ‚Metropole' die ‚Stadt' ersetzt habe. Ich meine, es wäre wichtig
> gewesen, auch diesen Abschnitt etwas ausführlicher zu resümieren.
> Ausgegangen wird dort von der Feststellung, die Diskussionen um den
> Gegensatz von Stadt und Land (bzw. um seine Aufhebung, wie sie im Marxismus
> anvisiert wurde) hätten sich erledigt, da heute weder von der Stadt noch vom
> Land die Rede sein könne: „Was sich um uns herum erstreckt, hat weder aus
> der Nähe noch aus der Ferne betrachtet irgendetwas damit zu tun" (S. 38/52).
> Stadt und Land sind L'insurrection qui vient zufolge in einem einzigen
> unbestimmten und unbegrenzten Raum aufgegangen, einem „weltweiten Kontinuum"
> aus Einkaufszentren, Wohnsiedlungen, Industriezonen,
> Lebensmittelanbaugebieten, Ferien- und Wochenendausflugszielen (ebd.). Was
> als unberührte Landschaft ausgegeben wird, ist bereits Gegenstand von
> Marketingstrategien, und die historische Altstadt hat keine andere
> Bestimmung mehr als die, Kulisse für einen von Polizisten und Bürgerwehren
> bewachten Weihnachtsmarkt zu sein.
>
> Gegen diese vollständig vom Kapital subsumierte Welt wird mit einem
> klassisch anarchistischen Gestus eine unkontrollierbare Gesellschaftlichkeit
> von unten gesetzt, die sich informell organisiert und damit der
> atomisierenden Erfassung durch die staatlichen Kontrollorgane entzieht.
> Diese Gesellschaftlichkeit wird allerdings nicht als eine bereits
> vorhandene, sondern als eine erst noch herzustellende verstanden. Eben darum
> haben die vier letzten Abschnitte des Buches nicht mehr den Charakter einer
> Zustandsbeschreibung, sondern den eines Entwurfs. Der in diesen Abschnitten
> entwickelte Begriff der ‚Kommune' und die mit ihm einhergehenden
> Überlegungen zur ‚Freundschaft' und zur Herstellung gemeinschaftlich
> genutzter ‚Territorien' wären von dem oben hervorgehobenen radikalen
> Anti-Individualismus aus zu erschließen (S. 98/108).
>
> Am Ende seiner Rezension berichtet Fuzi, er habe nach der Lektüre von
> L'insurrection qui vient Abstand genommen von seiner ursprünglichen Absicht,
> einen theoretischen Arbeitskreis zum Buch zu gründen. Dieses sei
> „theoretisch nicht besonders ergiebig." Gegen Fuzis Urteil ließe sich
> einwenden, dass sich in L'insurrection qui vient an vielen Stellen Bezüge
> auf Werke der zeitgenössischen Philosophie finden. So ist der Begriff des
> Territoriums der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari
> entnommen, während der Titel auf einen Text von Giorgio Agamben anspielt –
> um nur zwei Beispiele zu nennen. Und doch ist es richtig, dass ein
> theoretischer Arbeitskreis zu L'insurrection qui vient keine gute Idee wäre.
> Das Buch will nicht diskutiert werden, weil es nicht überzeugen will,
> sondern auf Identifikation setzt, besser: auf einen Wiedererkennungseffekt.
>
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> "Der kleine Dienstag aber wich nicht vom Apparat."
> www.zlb.de/projekte/kaestner/emil/dienstag.jpg
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