Anarchism in action :: Anarchism Reloaded ...

Hallo leute,

habe eben eine mail gesucht im kontext zu
http://wiki.aki-stuttgart.de/mediawiki/index.php/Gedichte#Anarchism_in_Action  
da kam 


On Sun, Jan 15, 2012 at 11:00 PM Contraste e.V. 

 

Aus CONTRASTE Nr. 310/311 (Sommer 2010, Seite 6)

REZENSION

Anarchism Reloaded oder Anarchy Alive?

»Die Proteste gegen den Weltwährungsfonds und die Weltbank in Prag lagen
gerade hinter uns, die frische antikapitalistische Brise war überall
spürbar, und ich war begierig, dabei zu sein. Ich hatte in Israel an
Friedens- und Umwelt-Aktionen teilgenommen und Marx, Marcuse und
Kropotkin gelesen. Und nun ging ich zu einem Treffen mit
Aktivistinnen und Aktivisten, die aus Prag zurückgekehrt waren. Wenige
Wochen später organisierten wir eine Demo vor einem Vorlesungssaal in
Oxford, wo der ehemalige Chef des IWF, Michel Camdessus, geehrt wurde.
Bald war ich mehr mit Aktivismus als mit Studieren beschäftigt. Ich
beteiligte mich immer intensiver an alternativen
Globalisierungsnetzwerken und an dem, was Aktivistinnen und Aktivisten
verächtlich als »Gipfel-Hopping« bezeichnen. Ich wurde in Nizza mit
Tränengas traktiert, in London eingekesselt und entkam in Genua nur
knapp einer ziemlich üblen Prügelei. Nach dem 11. September 2001
entstanden die Antikriegsbewegungen, und allmählich grenzten sich die
Reformer immer deutlicher von den Revolutionären ab. Zu dieser Zeit etwa
wurde mir auch klar, dass ich mein Studium keineswegs vernachlässigte.
Ich konnte meinen Aktivismus einfach als Feldstudien deklarieren und
meine akademische Arbeit so ausrichten, dass sie für Aktivistinnen und
Aktivisten nützlich sein würde. Dabei ist dieses Buch herausgekommen.«

So beschreibt der israelische Anarchist Uri Gordon
die »Geburtsstunde« seines 2008 veröffentlichten Buches »Anarchy Alive!
Anti-authoritarian Politics from Practice to Theory«, das 2010 in der
Edition Nautilus in deutscher Übersetzung unter dem Titel: »Hier und
Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie« erschienen ist. Gordon war im
Oktober 2000 nach Europa gekommen, um in Oxford ursprünglich seine
Dissertation über Umweltethik zu schreiben. Daraus wurde erst einmal
nichts, aus den eingangs von ihm selbst erwähnten Gründen. Seine in der
Bewegung der radikalen »Globalisierungskritiker« gemachten Erfahrungen
hat Gordon in seinem Buch über die zeitgenössische anarchistische
Politik verarbeitet.

Uri Gordon zufolge ist in den vergangenen zehn Jahren eine neue globale
anarchistische Bewegung entstanden, wie es sie seit den 1930er Jahren
nicht mehr gegeben hat: »Von antikapitalistischen Zentren und
ökofeministischen Höfen bis zu Basisorganisationen auf Gemeinde-Ebene,
Blockaden internationaler Gipfeltreffen, alltäglichen direkten Aktionen
und einer enormen Menge an Publikationen und Websites – Anarchie lebt im
Herzen der globalen Bewegung, die erklärt: »Eine andere Welt ist
möglich.« Das Ende der Geschichte, das 1989 ausgerufen wurde, hat sich
keineswegs eingestellt. Vielmehr sind die Verbreitung und Erweiterung
anarchistisch inspirierter Kämpfe und Politik – weitgehend in den
fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern – seither eine bedeutende
Antriebskraft hinter dem Widerstand gegen den Neoliberalismus und den
permanenten Krieg. Das Wort selber kann Grund zum Stolz sein oder auch
eine unnötige Belastung oder ein vernachlässigbares Accessoire. Positive
Umschreibungen gibt es ohne Ende: anti-autoritär, autonom, horizontal
... aber wenn du sie siehst, erkennst du sie sofort – Anarchie ist überall.«

»Hier und Jetzt!« will ein anarchistisches Buch über Anarchismus sein,
und das Hauptanliegen seines Autors ist es, einen Beitrag zur
anarchistischen politischen Theorie zu leisten. Die anarchistische
politische Theorie, auf die sich Gordon bezieht, um sich dem neuen
»Anarchismus« anzunähern, hat ihre Wurzeln überwiegend in der
angloamerikanischen anarchistischen Bewegung und ihrer Literatur.
Gleichzeitig fließen in die Studie seine Erfahrungen ein, die er in der
Bewegung der radikalen Globalisierungskritiker in Europa sammelte, was
zu einem Brückenschlag zwischen angloamerikanischer Theoriediskussion
und kontinentaleuropäischem Aktionsanarchismus führt. Dabei wird manches
anders als hierzulande und einiges sogar neu buchstabiert.

In seiner Studie untersucht Gordon die Entwicklung anarchistischer
Gruppen, Aktionen und Ideen der letzten Jahre. Er versucht dabei
aufzuzeigen, was eine Theorie, die auf der Praxis aufbaut, für die
zentralen Debatten und Problemstellungen leisten kann, die die
Bewegungen heute umtreiben. Unter »Anarchismus«, so wie er von Gordon
definiert wird, ist mindestens Dreierlei zu verstehen:

»Erstens ist Anarchismus eine zeitgenössische soziale Bewegung, die sich
aus dichten Netzwerken vieler Einzelner, von Bezugsgruppen und
Kollektiven zusammensetzt. Sie kommunizieren intensiv, teilweise
weltweit und stimmen sich bei einer Vielzahl direkter Aktionen und
andauernder Projekte miteinander ab. Die durch und durch dezentrale und
netzwerkartige Struktur der anarchistischen Bewegung scheint manchmal
verwirrend – all die Aktivitäten entfalten sich gewöhnlich ohne formelle
Mitgliedschaften oder feste organisatorische Abgrenzungen.

Zweitens ist Anarchismus die Bezeichnung für eine komplexe politische
Kultur, die diese Netzwerke inspiriert und mit Inhalt füllt – wobei der
Begriff hier eine Gruppe gemeinsamer Orientierungen bezeichnet, die das
politische Handeln und das Reden darüber sowie auch das tägliche Leben
ausrichten. Kennzeichnend für diese Kultur sind:

# ein gemeinsames Repertoire politischer Aktionsformen auf der Grundlage
der direkten Aktion, des Aufbaus von Alternativen »von unten«, von
Kontakten und Konfrontation auf lokaler Ebene;

# gemeinsame Organisationsformen: dezentralisiert, horizontal und
konsensorientiert;

# eine gemeinsame Kultur in so unterschiedlichen Bereichen wie Kunst,
Musik, Kleidung und Essgewohnheiten, häufig angelehnt an westliche
Subkulturen;

# eine gemeinsame politische Sprache, der es auf Widerstand gegen den
Kapitalismus, den Staat, das Patriarchat und allgemein gegen Hierarchien
und Dominanz ankommt.

Die anarchistische politische Sprache transportiert selber eine dritte
Bedeutung von Anarchismus – Anarchismus als Sammlung von Ideen.
Anarchistische Ideen sind theoretisch ausgefeilt und befinden sich
zugleich im Fluss unablässiger Weiterentwicklung. Der Inhalt zentraler
anarchistischer Gedanken ändert sich von einer Generation zur nächsten
und ist nur vor dem Hintergrund der Bewegungen und Kulturen zu
verstehen, in denen und durch die sie ausgedrückt werden.«

Diese von Uri Gordon dergestalt definierte neue anarchistische Bewegung
hat erkennbar geringe Berührungspunkte mit dem traditionellen
Anarchismus. Gordon meint sogar Anzeichen eines Paradigmenswechsel des
Anarchismus zu erkennen, der »heutzutage durch und durch heterodox ist,
aktionsbezogen und darauf aus, zu gewinnen«.

Der neue Anarchismus, wie ihn Gordon definiert, ist ein theoretisches
Konstrukt. Denn die Bewegung, die der Autor als die neue anarchistische
Bewegung untersucht und beschreibt, versteht sich von ihrem
Selbstverständnis her wohl eher selten als »anarchistisch«. Der Begriff
»Anarchismus« dient Gordon als ein theoretischer Sammelbegriff, unter
dem die unterschiedlichsten
Einzelbewegungen, wie z.B. die Ökologiebewegung, der Feminismus, die
Schwulenbewegung, die Bewegung für Tierrechte, der »Schwarze Block« und
nicht zuletzt auch die formellen und informellen Gruppen der erklärten
Anarchisten und Anarchistinnen als eine gemeinsame soziale Bewegung
berücksichtigt werden. Aber genauso gut könnte man diese Bewegung unter
dem Sammelbegriff der »Neuen Sozialen Bewegungen« verbuchen. Eine
Zeitlang wurde hierzulande diese ideologisch und von ihren Aktionsformen
her heterogene Protestbewegung auch als »Alternativbewegung« bezeichnet.
Das sind Schubladenbegriffe der Wissenschaft, mit denen in der realen
Praxis der sozialen Bewegungen nur selten jemand etwas anfangen kann.

Unbestritten bleibt jedoch, dass es in dieser bunten rebellischen neuen
sozialen Bewegung, die sich seit einigen Jahrzehnten als Alternative zu
den bestehenden Herrschaftssystemen gebildet und artikuliert hat, ein
diffuses anarchistisches Milieu gibt. Ich würde es allerdings eher als
ein anarchisches Milieu bezeichnen. Denn wie Gordon selbst auch
einräumt, orientieren sich nur die Wenigsten in dieser Bewegung explizit
am Anarchismus welcher Spielart auch immer. Was Gordon in seiner Studie
beschreibt, ist eher die Kultur einer intuitiv gelebten Anarchie und
weniger eine bewusst reflektierte ideologische Einstellung, wie sie etwa
von den erklärten Anarchisten vertreten wird. Das ändert nichts am
Phänomen der Rückkehr einer Kultur der Anarchie, für das sich auch in
anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen Belege finden lassen. Die
Differenzierung zwischen anarchisch und anarchistisch hilft jedoch
politische Fehlinterpretationen zu vermeiden.

Die Untersuchung dieses anarchischen Milieus, das sich zu einem globalen
Phänomen der unterschiedlichsten widerständischen Bewegungen entwickelt
hat, macht die eigentliche Stärke von Gordons Studie aus. Aus einer
quasi anthropologischen Perspektive heraus (tlw. auch in expliziter
Anlehnung an die Anthropologen David Graeber und Jeff Juris) versucht
Gordon aufzuzeigen, »was die Bewegung bewegt«. Dabei berücksichtigt er
die Perspektiven, Dilemmata und Kontroversen der neuen »anarchistischen«
Bewegung, die erst innerhalb der real stattfindenden antiautoritären
Kämpfe für gesellschaftliche Veränderungen zutage treten. Eingehend
beschäftigt
sich Gordon mit der Frage der internen Hierarchien und der Macht
innerhalb der Netzwerke dieser Bewegung und verfolgt daran anschließend
die Frage nach der Definition, der Rechtfertigung und der Effizienz
politisch begründeter Gewalt. Des Weiteren berücksichtigt er die
Kontroverse Technologie versus Moderne innerhalb der Bewegung.

Im abschließenden Kapitel, das für mich zu dem Spannendsten seines
Buches gehört, setzt sich Gordon mit dem Verhältnis des Anarchismus zu
den nationalen Befreiungsbewegungen auseinander. Diese
für Anarchisten in vielerlei Hinsicht heikle Problematik erläutert er am
besonderen Fall Palästina/Israel. Gordon berichtet dabei aus erster Hand
von seinen Erfahrungen in einer Gruppe israelischer Aktivisten, die sich
bemüht, die Barrieren zwischen israelischen und palästinensischen
Gebieten abzubauen. Seit Beginn der zweiten Intifada konzentrieren sich
die Aktivitäten dieser Gruppe auf die Besatzung in Palästina und
wendeten sich insbesondere gegen den Bau der Apartheids-Mauer, was auch
zu ihrer späteren Namensgebung »Anarchists against the Wall« führte.
Unter den Palästinensern gibt es einige verwandte Seelen und viele
Verbündete, aber keine anarchistische Bewegung. Doch hat sich in den
letzten Jahren eine Allianz zwischen palästinensischen Gemeinden,
israelischen und internationalen Aktivisten gebildet.

Natürlich sind in einem Kontext wie dem israelisch-palästinensischen die
Aussichten anarchistischer Politik besonders trübe. Jahrzehnte der
Besatzung und bewaffneten Auseinandersetzungen haben eine schwer
lastende Hypothek der Angst und des Misstrauens hinterlassen. Man
versteht Gordon, wenn er schreibt: »Mitten in all dem täglichen
Schrecken von Tod und Demütigung, gegenseitiger Unkenntnis, Angst und
Hass würde man gerne etwas Positives über die Aussichten für einen
'echten Frieden' in der Region sagen können.« Uri Gordon versucht eine
solche positive Perspektive zu entwickeln, indem er für den
jüdisch-palästinensischen Konflikt eine »Kein-Staat-Lösung« aufzeigt,
die als jüdisch-palästinensische Graswurzelbewegung das Gemeinsame der
Menschen in der Region beansprucht und sich in Richtung direkter
Demokratie, einer partizipativen Ökonomie und echter Autonomie für die
in ihr lebenden Menschen bewegt.

»Hier und Jetzt!« ist ein Buch, mit dem ich in diversen Aspekten nicht
übereinstimme. Dennoch möchte ich es zur Lektüre empfehlen. Es ist ein
anregendes Buch mit frischen Ideen, das geeignet ist, die Theorie und
die Praxis des Anarchismus einmal grundsätzlich in Frage zu stellen und
neu zu überdenken.

Jochen Schmück

Hier und Jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie. Von Uri Gordon. Aus
dem Englischen übersetzt von Sophia Deeg (Original: Anarchy Alive!
Anti-Authoritarian Politics from Practise to Theory, London: Pluto
Press, 2008). Deutsche Erstausgabe. Erschienen im Februar 2010 in der
Edition Nautilus, Hamburg. Broschur, 256 Seiten. ISBN 978-3-89401-724-8,
18 EUR

Kasten

DER AUTOR

Uri Gordon, Jahrgang 1976, promovierte in Oxford über anarchistische
Politik und lehrt heute am »Arava Institute for Environmental Studies in
Ketura«, Israel. Er hat mit verschiedenen anarchistischen und radikalen
Bewegungen zusammengearbeitet, etwa »Indymedia«, »Dissent!-network«,
»Peoples' Global Action« oder »Anarchists Against the Wall«. Als
Aktivist vor allem in Israel und Großbritannien tätig, hat er an
Straßenprotesten gegen internationale Gipfeltreffen in der ganzen Welt
teilgenommen. Er schreibt für diverse anarchistische Medien, aber auch
für große israelische Zeitungen wie »Haaretz« oder die »Jerusalem Post«.

********************************************************************************

CONTRASTE ist die einzige überregionale Monatszeitung für
Selbstorganisation. CONTRASTE dient den Bewegungen als monatliches
Sprachrohr und Diskussionsforum.

Entgegen dem herrschenden Zeitgeist, der sich in allen Lebensbereichen
breit macht, wird hier regelmäßig aus dem Land der gelebten Utopien
berichtet: über Arbeiten ohne ChefIn für ein selbstbestimmtes Leben,
alternatives Wirtschaften gegen Ausbeutung von Menschen und Natur,
Neugründungen von Projekten, Kultur von "unten" und viele andere
selbstorganisierte und selbstverwaltete Zusammenhänge.

Des weiteren gibt es einen Projekte- und Stellenmarkt, nützliche Infos
über Seminare, Veranstaltungen und Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt.

CONTRASTE ist so buntgemischt wie die Bewegungen selbst und ein Spiegel
dieser Vielfalt. Die Auswahl der monatlichen Berichte, Diskussionen und
Dokumentationen erfolgt undogmatisch und unabhängig. Die RedakteurInnen
sind selbst in den unterschiedlichsten Bewegungen aktiv und arbeiten
ehrenamtlich und aus Engagement.